Polit-Forum Bern «Wie viel Religion darf’s denn sein?»

Harmonie der Kirchen bei aktueller Debatte im Käfigturm

Da die Bundesverfassung 175 Jahre alt wird, lädt das Polit-Forum Bern zu Veranstaltungen im Käfigturm ein. So auch am 05. September 2023 zu einer aktuellen Debatte über die Frage wie viel Religion es in der Bundesverfassung sein darf. Ob die Religion und die Religionsgemeinschaften stärker in der Verfassung angesprochen werden müssen.
12. Sept. 2023

Diskussionsrunde Käfigturm zum Thema Wie viel Religion darf's denn sein

Der Ablauf war, dass erst Herr Urs Brosi von der Römisch-Katholischen Zentralkonferenz der Schweiz ein Inputreferat gehalten hatte, anschliessend gab es eine Podiumsdiskussion.


Dort redeten, dann folgende Personen miteinander:


Pfarrerin Rita Famos, Präsidentin Evangelisch-reformierte Kirche Schweiz (1. vl)
Marianne Binder-Keller, Nationalrätin,  Die Mitte (2.vl)
Antonius Liedhegener, Professor für Religion und Politik an der Universität Luzern (4. vl)
Vincent Depaigne, Koordinator für den Dialog mit Kirchen, religiösen Vereinigungen oder
Gemeinschaften sowie weltanschaulichen Gemeinschaften der Europäischen Union (zugeschaltet)

Miteinander reden trifft die Stimmung auf dem Podium besser als miteinander diskutieren. Das lag daran, dass es ein Gespräch zwischen Vertretern der beiden grossen Kirchen und ihnen zugewandten Personen war. Mit Ausnahme vielleicht von Herrn Depaigne, der eine Aussenperspektive, wie es in der Europäischen Union funktioniert, in das Gespräch brachte. In der EU gibt es ein Dialogformat zwischen den Religionen. Personen mit der Auffassung, dass es weniger institutionelle Verbindung zwischen Staat und Religion braucht, mussten im Publikum Platz nehmen. Wo sie, auch ohne Freidenkende, die Mehrheit stellten.

Die Runde war sich rasch darüber einig, dass es einen Religionsartikel in der Verfassung braucht.

Was ist eigentlich ein Religionsartikel?

In dem Gespräch wurde das leider nicht erklärt.
Bei einer Suche haben kamen zwei Versionen hervor:

  • 2002 war es die Idee, dass die Bundesverfassung dort wo sie zum Ausdruck bringt welche staatspolitischen Ziele uns leiten sollen die Religion positiv zur Sprache bringen soll.
    «Der Religionsartikel ist eine Notwendigkeit»
  • 2010 war es die Idee, die Bundesverfassung darum zu ergänzen, dass jedes Individuum seine Religion oder sein weltanschauliches Bekenntnis frei wählen, ausüben, kommunizieren und wechseln darf und dass es den Schutz des Staates geniesst, wenn es deswegen von extremen Kreisen benachteiligt und verfolgt wird. Im Gegenzug seien die kulturellen und religiösen Organisationen auf die Beachtung der Grundrechte, des Rechtsstaats und der demokratischen Staatsordnung sowie zu Transparenz zu verpflichten gewesen.
    EVP will neuen Religionsartikel in der Verfassung
    Postulat: Neuer Religionsartikel in der Bundesverfassung

Generell forderten sowohl Urs Brosi in seinem Inputreferat als auch die Podiumsteilnehmer mehr Nähe zwischen Religion und Staat. Es tauchte die Forderung nach einem Bundesamt für Religion mit breiten fachlichen Kompetenzen auf, die aber nicht von allen gestützt wurde. Frau Binder sprach davon «Religion als Ressource zu nutzen». Aus ihrer Sicht sei Religion keine Gefahr, sondern sie sei eine Ressource für die Gemeinschaft.

Im Publikum der Diskussion waren Andreas Kyriacou, Präsident der Freidenker-Vereinigung der Schweiz, und Herbert Jost und Michael Fuss von den Freidenken Bern Freiburg Solothurn.

Kommentar Herbert Jost:

Frau Famos beschwor die gesellschaftlichen Werte, die der Kirche zu verdanken seien. Herr Liedhegener verstieg sich sogar in der Behauptung, dass Errungenschaften wie die Wissenschaften den Religionen zu verdanken seien. Frau Binder-Keller ergänzte mit der Behauptung, dass das Betriebssysten der Schweizer Gesellschaft auf der gemeinsamen religiösen Erinnerung basiere. Kein Wort darüber, dass aktuelle Elemente wie Menschenrechte, Humanismus, Individualität und auch die freie Wissenschaft den Religionen und ihren Führern abgetrotzt werden mussten. Ohne die französische Revolution hätten wir wohl noch etliche klerikale Systeme. Würde das Frau Binder-Keller wirklich gefallen?

Diese Ausführungen des Podiums lassen nicht auf eine Notwendigkeit der Stärkung der Religionen im Staat schliessen. Im persönlichen Gespräch beim Apero begründete Herr Liedhegener diese Forderung damit, dass die schiere Grösse der Gemeinschaften eine intensivere Zusammenarbeit erfordere. Den Gedanken kann ich nachvollziehen, aber ich komme definitiv nicht zum Schluss, dass religiöse Gemeinschaften dadurch ein Recht auf Privilegien begründen können. Herr Depaigne sprach in diesem Zusammenhang auch von «less discrimination», durch mehr Staat würde die Glaubenslandschaft «diskriminierungsärmer». Für uns sieht Gleichbehandlung so aus: Jegliche Gemeinschaft hält sich an geltendes Recht. Keine Privilegien, keine Sonderbehandlung, auch nicht von grossen Vereinen.

Kommentar Michael Fuss:

Frau Famos erklärt, dass Frankreich mit seinem Laizismus auf die Nase gefallen sei. Dieses Frühjahr habe ich eine Velo-Tour durch Frankreich gemacht – dabei ist mir nichts in dieser Hinsicht aufgefallen. Mich hätte da Wunder genommen, was sie damit meint.

Frau Binder-Keller findet Kirchenaustritte schade.
Denkt sie es wäre besser für die Kirche, wenn Menschen, die nicht mehr an Gott, die Bibel und die Kirche glauben in der Organisationen bleiben würden?
Sieht sie wie die römisch-katholische Kirche mit einer nicht endenden Serie von Skandalen die Grundlage für die Massenaustritte der letzten Jahre selbst gelegt hat? Aus meiner Sicht purzeln die Mitglieder bei der katholischen Kirche nicht mehr nur aus den Türen – es ist zu einer Massenflucht geworden.

Herr Liedhegener begründet die Notwendigkeit eines Religionsartikels in der Bundesverfassung mit den Veränderungen in der Religionslandschaft durch die Migration. Die Schweiz ist bei der Migration in Europa insofern ein Spezialfall, als dass die meisten Migranten aus Europa kommen.  Das macht die Migranten ohne Religion zur zweitgrössten weltanschaulichen Gruppe nach den verschiedenen christlichen Ausrichtungen. Inwieweit ist denen durch einen Religionsartikel geholfen? Es stimmt, dass diese Menschen nur wenige spezielle Ansprüche haben. Diese beschränken sich aber nicht nur darauf, dass sie Kreuze abzuhängen. Beispielsweise könnten sie im Krankheitsfall im Spital über eine Seelsorge oder eine Gesprächsbegleitung sehr froh sein.

Abschliessend:

Zwar sind tatsächlich längst nicht alle konfessionsfreien Menschen bei uns Freidenkenden Mitglied. So falsch können wir mit der Interessenvertretung aber nicht liegen. Immerhin wurde im Kanton Luzern auf unsere Initiative hin der Beitrag zum Bau der Schweizergarder-Kaserne mit 71.5 Prozent abgelehnt.