Kindeswohl durch Religionsgemeinschaft gefährdet

Tages Anzeiger 15.9.2003

Familientragödie im Sektenmilieu Ein Vater kämpft verzweifelt um seine Tochter. Besonders delikat: Die Mutter ist in einer Sekte aktiv. Ein jahrelanger Kampf mit teilweisem Happyend und einmaligem Gerichtsurteil. Seit 1994 kämpft der 44-jährige couragierte Vater S. R. aus dem Zürcher Oberland mit allen Mitteln für seine Tochter Olivia (Name geändert). Seit neun Jahren bestimmt der Kampf mit seiner Frau und - versteckt - mit der St. Michaelsvereinigung aus Dozwil TG sein Leben. Die Akten, darunter zwei Dutzend Gerichtsurkunden, füllen 24 Ordner. Zehnmal wurde S. R. vom Untersuchungsrichter vorgeladen.

Von Hugo Stamm

Die Familientragödie begann harmlos. An einem Flohmarkt lud ein Mann die heute 44-jährige Mutter an einen Kurs über Lebensfragen nach Zürich ein. Doch bald sprach sie von geheimnisvollen Schwingungen, einem Leben nach dem Tod, von Jesus. "Schon nach dem zweiten Kurs war sie wie verwandelt, ich kannte sie kaum mehr", erzählt S. R. Er fand heraus, dass die Kurse von der St. Michaelsvereinigung des kürzlich verstorbenen, selbst ernannten Propheten Paul Kuhn organisiert wurden. "Meine Frau war nach wenigen Wochen Dozwil-süchtig", erklärt er. Sie pilgerte oft ins Thurgauische oder betete dreimal täglich zwei Stunden. Die Diskussionen endeten meist im Streit.

Trotzdem begleitete er seine Frau rund 30-mal nach Dozwil. Aus Angst, sie sonst zu verlieren. Ausserdem hatte er sieben Audienzen bei Paul Kuhn. Er konnte sich aber nicht richtig wehren, weil er nach der dreistündigen Messe und im direkten Kontakt mit Kuhn wie gelähmt war. Als sich seine Frau mit einem Anhänger von Paul Kuhn befreundete, brach der Konflikt offen aus.

Nun passierten S. R. merkwürdige Dinge. Ein Beispiel. In dieser Zeit machten sich unbekannte Leute an ihn heran, die sich anerboten, ihm in der schwierigen Situation beizustehen. Sie besuchten ihn, während seine Frau in Dozwil war. Dann stellte er bei den Gesprächen mit Paul Kuhn fest, dass dieser über seine persönlichen und privaten Angelegenheiten bestens im Bild war. Heute ist S. R. überzeugt, dass seine neuen "Freunde" ihn ausgehorcht hatten. Er streute bewusst falsche Informationen, die prompt wie ein Echo aus der Umgebung von Dozwil zurückhallten. Nun war für ihn der Fall klar.

In dieser schwierigen Situation kündigte er seine Stelle, um sich ausschliesslich um seine dreijährige Tochter kümmern zu können. S. R. wurde schwer krank - eine Virusinfektion. Seine Frau, von Beruf Krankenschwester, drängte ihn, bei Paul Kuhn Hilfe zu holen. Als sich sein Zustand weiter verschlechterte, suchte er endlich einen Arzt auf. Es sei allerhöchste Zeit gewesen, sagte dieser ihm.

Im Frühjahr 1996 zog seine Frau aus und nahm die Tochter mit. S. R. war am Ende und intervenierte sofort bei den Behörden. Als er eines Tages seine Tochter bei seiner Frau besuchte, tauchte plötzlich deren Freund auf und griff ihn an. Es kam zu einem kleinen Handgemenge. Frau und Freund gingen darauf ins Spital, liessen ihre Verletzungen dokumentieren und klagten S. R. wegen Tätlichkeiten an. Dieser stritt ihre Version ab. Die ganze Übung sei inszeniert gewesen, um die Scheidung zu beeinflussen. Ihre Verletzungen hätten sie sich selbst zugefügt. Doch er wurde zu einer Busse verurteilt. Mit aufwändigen Rekursen konnte er jedoch nachweisen, dass die Aussagen seiner Frau und ihres Freundes haltlos waren.

Nun durfte Olivia zu ihm zurückkehren. Es war der erste Lichtblick für den Vater. Die Mutter focht den Entscheid mit einer superprovisorischen Verfügung an. Vergeblich. S. R. drehte zeitweise fast durch. Die vielen Verhöre, Untersuchungen, Verfahren und Prozesse brachten ihn beinahe um den Verstand. Und um das letzte Geld. Ihm drohte der Konkurs. Die gute Beziehung zu seiner Tochter gab ihm jedoch die Kraft, weiterzukämpfen.

Gericht: Sorgerecht für den Vater

Dann kam die Scheidung. Das Urteil war nicht nur für S. R. eine kleine Sensation, sondern auch für Juristen. Das Bezirksgericht Uster sprach dem Vater im Frühling 1998 das Sorgerecht zu und verbot der Mutter, die Tochter an Besuchstagen zu Anlässen der St. Michaelsvereinigung mitzunehmen. Ein vermutlich einmaliger Entscheid in der Schweiz. Bei einer Sektenverstrickung weigern sich die Scheidungsrichter praktisch durchwegs, die Gefahr einer Vereinnahmung zu berücksichtigen. "Das religiöse Umfeld der Beklagten weckt jedoch Bedenken an einer uneingeschränkten freien Entwicklung des Kindes und lässt das Kindeswohl als gefährdet erscheinen", heisst es im Urteil. Ausserdem wurde der Mutter eine Ordnungsbusse angedroht, falls sie ihre Tochter bei der St. Michaelsvereinigung einführe.

Sie war nicht bereit, dieses "gottlose" Urteil zu akzeptieren, und leistete keine Zahlungen. Ausserdem nahm sie die Tochter regelmässig zu Sektenveranstaltungen mit. Dies wiederum akzeptierte S. R. nicht und verweigerte seiner Ex-Frau das Besuchsrecht. Das fiel ihm umso leichter, als sich seine Tochter immer heftiger dagegen wehrte, ihre Mutter in Dozwil zu besuchen. Gefängnisstrafe für die Mutter

Der Streit endete erneut vor dem Richter. Die Ex-Frau von S. R. wurde im November 2000 zu einer bedingten Gefängnisstrafe von einem Monat verknurrt, weil sie die Unterhaltsbeiträge nicht zahlte. Die Schulden beliefen sich zu diesem Zeitpunkt auf über 32 000 Franken. Sie zahlte die Alimente weiterhin nicht, weshalb ein neues Verfahren eröffnet wurde. Nun verurteilte das Bezirksgericht Uster die Mutter zu einer dreimonatigen unbedingten Gefängnisstrafe.

Gegen dieses Urteil rekurrierte sie beim Obergericht. Dabei beteuerte sie, die Unterhaltszahlungen nun zu leisten. Ihre Einsicht stimmte die Oberrichter mild, weshalb sie die Gefängnisstrafe im vergangenen Juni auf Bewährung aussetzten. Inzwischen sind die ersten drei Zahlungen beim Vater von Olivia eingetroffen: Nur 50 Franken pro Monat, statt der geforderten 550 Franken. Die ausstehende Gesamtsumme beläuft sich bereits auf rund 100 000 Franken. Trotzdem bekommt S. R. die Alimente nicht bevorschusst. Der Kampf ist für Olivia und ihren Vater also noch immer nicht ausgestanden.