Leitkultur Humanismus und Aufklärung

Die Leitkultur-Diskussion ist in der Schweiz angekommen. Während der Abstimmungsdebatte um die Anti-Minarett-Initiative werden von den Initianten die „christlich abendländischen“ Werte beschworen, Bundesrätin Widmer-Schlumpf beruft sich auf die Präambel der Bundesverfassung und die Kirchenoberen, aber auch die Evangelikalen der Evangelischen Allianz,  haben ihre liebe Mühe, ihrer konservativen Mitgliederschaft die offizielle Nein-Parole zum Minarett-Verbot zu verkaufen und versprechen drum einen "Religionsartikel zur Wahrung der christlichen Leitkultur" in der Schweiz. (TA 15.11.2009)

Die Trennlinie – auch innerhalb der FVS – verläuft dabei in erster Linie zwischen konservativen Menschen, welche sich mit allen Mitteln gegen die Tatsache sträuben, dass die Globalisierung uns mit „Fremden“ und „fremden Religionen“ beglückt, und pragmatischen Menschen, welche auf die Integration der MigrantInnen in unsere aufgeklärte, freie und demokratische Gesellschaftsordnung setzen.

Leitkultur der Errungenschaften der Moderne

Im Nachbarland Deutschland fegte diese Debatte schon vor ein paar Jahren durch die Medien. Michael Schmidt-Salomon schrieb bereits 2006:  „Weder die konservative Wiederbelebung der Idee einer ‚christlichen Festung Europa’ noch die postmoderne Beschwichtigungspolitik gegenüber religiösen und esoterischen Strömungen werden das Projekt einer ‚offenen Gesellschaft’ voranbringen.“

Mit seinem „Manifest des Evolutionären Humanismus“ (2005) zeigte er auf, „dass wir heute kaum eine andere Chance haben, als auf jene ‚verdrängte Leitkultur’ zu setzen, mit der der gesellschaftliche Fortschritt in der Geschichte verknüpft war: die Leitkultur von Humanismus und Aufklärung“.

Schmidt-Salomon und andere Autoren weisen darauf hin, dass alle grossen Errungenschaften der Moderne mit der Tradition der Aufklärung verbunden sind (technisches Know-how, Rechtsstaatlichkeit, Meinungsfreiheit etc.).

Bereits haben sich über eine Million Menschen in der Schweiz von den etablierten Religionen verabschiedet – aber sie sind sowohl in den Medien als auch in der Politik praktisch unsichtbar geblieben. Trotz unübersehbarem Mitgliederschwund beharren die „Landeskirchen“ immer noch – wenn auch kantonal unterschiedlich – auf ihren Privilegien (Subventionen in Milliardenhöhe, Präsenz in den Medien, Schulen und Universitäten etc.) und ihrer Deutungshoheit in ethischen Fragen, und sie sind zur Wahrung ihrer Position sogar bereit, auch dem Islam die gleiche privilegierte Position verschaffen.

Gegen "Landeskirchen" und religiöse Parallelgesellschaften

Die Schweizer  FreidenkerInnen treten ein für eine stärkere Berücksichtigung der Leitkultur Aufklärung und Humanismus. Dabei geht es einerseits darum, die ungerechtfertigten Deutungshoheit der „Landeskirchen“ zurückzudrängen, aber auch darum, dem Problem der religiösen Parallelgesellschaften zu begegnen, welche die rechtsstaatliche Prinzipien zu unterlaufen suchen.

Wir wissen heute, dass sich Menschen nicht automatisch zu Demokraten entwickeln, wenn man ihnen rechtsstaatlich garantierte Grundrechte einräumt. Die Ausübung der Religionsfreiheit bzw. das Ausleben kultureller Traditionen müssen in unserer Rechtsordung begrenzt werden, wo sie klar mit rechtsstaatlichen Prinzipien kollidieren.  Das wird heute mehrheitlich anerkannt und teilweise in Gesetzen umgesetzt (Beispiele: Zwangsheirat, weibliche Beschneidung).

Das reicht aber nicht. Im Bildungsbereich dürfte die Einführung eines für alle Kinder verbindlichen Werteunterrichts nötig sein, da ohne solche integrativen Massnahmen der für die Zukunft der Schweiz unerlässliche Grundwerte-Konsens nicht zu erreichen ist.

Oder wie Schmidt-Salomon sagte: „Fest steht: Wenn Klein-Erna mit Segen des Staates von Vertretern der katholischen Kirche, Klein-Mehmet von Muslimen, Klein-Philipp von Zeugen Jehovas etc. fürs Leben geschult werden, so entsteht darüber keine weltanschauliche Vielfalt, sondern bloss potenzierte Einfalt. Mit der bisher gewählten Strategie, die schulische Vermittlung und Diskussion von Werten und Weltanschauungen ausgerechnet den religiösen Gemeinschaften zu überlassen, hat der Staat den Bock zum Gärtner gemacht. Dass unter dieser Voraussetzung das zarte Pflänzchen einer offenen Gesellschaft nicht gedeihen kann, sollte niemanden verwundern.“

Mythos der „staatlichen Wertindifferenz“

Säkulare Menschen müssen darauf bestehen, dass die in der Bundesverfassung enthaltene weltanschauliche Neutralität des Staates nicht als Verpflichtung zu staatlicher Wertindifferenz ausgelegt werden darf. Der Konsens der SchweizerInnen beruht auf klar benennbaren Verfassungswerten, die als Minimalkonsens das Zusammenleben der Menschen regeln sollen:

Grundrechte

Gewaltenteilung

Richterliche Unabhängigkeit

Sozialstaatsprinzip

Schutz für Verfolgte

Verantwortung für die Nachwelt, die natürlichen Lebensgrundlagen und die Tierwelt usw.

Selbstverständlich können und sollen die Volksschulen deshalb auch die Bundes-, Kantons- und Gemeindeverfassung, den existierenden Grundkonsens, als verbindlich vermitteln, denn es geht um die Basis des friedlichen und gerechten Zusammenlebens in der Gesellschaft.

Mit Verfassungsrecht darf und muss die Schule „indoktrinieren“

Staat und Schule sollen also sehr wohl aktiv Werte vermitteln, sind sogar dazu verpflichtet, wenn sich die verfassungsgebende Gesellschaft gegen freiheitsfeindliche Angriffe schützen will. Es muss zum Allgemeinwissen werden, dass die in der Verfassung verankerten Freiheitsgarantien (u. a. Religionsfreiheit, Freiheit der Kunst, der Wissenschaft und der Meinungsbildung) dort ihre Grenzen finden, wo die Prinzipien der Verfassung sowie der untergeordneten Gesetzessammlungen verletzt werden.

Eingriffspflicht des "weltanschaulich neutralen" Staaes

Der "weltanschaulich neutrale" Staat schreibt seinen Bürgern zwar nicht in umfassendem Sinne vor, was sie zu denken oder zu glauben haben. Er greift aber ein,

wenn Einzelne oder weltanschauliche Gruppierungen gegen die Gleichberechtigung von Mann und Frau, gegen Kinderrechte oder z. B. gegen den Schutz der Tierwelt verstossen

wenn eine seriöser Bildung, die sich nach soliden wissenschaftlichen Wahrheitskriterien richten muss und nicht nach den Wahrheitsvorstellungen bestimmter religiös-weltanschaulicher Gruppierungen, nicht gewährleist ist.

In den Worten von Michael Schmidt-Salomon: „’Weltanschaulich neutral’ kann sich der Staat nur dort verhalten, wo weder die humanistischen, auf den Menschenrechten beruhenden ethischen Prinzipien des Grundgesetzes noch die Seriosität des Bildungsauftrags auf dem Spiel stehen. Das Prinzip der weltanschaulichen Neutralität steht und fällt mit der Akzeptanz jener Leitkultur, auf der unser Rechtsstaat gründet. Diese Leitkultur ist weder national noch religiös geprägt, sondern international verankert und im Kern säkular ausgerichtet (ohne dadurch die Religionsfreiheit unzulässig einzuschränken). Es handelt sich hierbei um jene leidlich verdrängte, aber doch im Hintergrund ungeheuer wirkmächtige Leitkultur von Humanismus und Aufklärung - eine Leitkultur, die heutzutage viel stärkere Beachtung finden sollte, da sie allein in der Lage ist, jenen zeitgemässen Grundkonsens zu definieren, auf dem sich ein fruchtbarer gesellschaftlicher Pluralismus überhaupt entfalten kann.“

Reta Caspar

Kerngedanken und Zitate aus
Michael Schmidt-Salomon Leitkultur Humanismus und Aufklärung, 2006