Grossveranstaltung: Selbstbestimmt von der Geburt bis in den Tod

Am 9. Mai durften die FreidenkerInnen Region Winterthur den bekannten Menschenrechtsaktivisten Ludwig A. Minelli, Gründer und Generalsekretär von Dignitas – Menschenwürdig leben – Menschenwürdig sterben, im grossen Physiksaal des Technikums Winterthur zum Thema «Selbstbestimmt von der Geburt bis in den Tod – Von der pränatalen Diagnostik bis zur Sterbehilfe» begrüssen.

Der Vortrag im Wortlaut:

Sehr verehrte Damen und Herren,

Der Mensch wird zwar als Individuum, allerdings als hilfloses unselbständiges Wesen, geboren. Im Unterschied zu Nestflüchtern ist er ein Nesthocker. Auf sich allein gestellt ist er nicht lebensfähig. Er bedarf zur Sicherung seiner Existenz der Gemeinschaft mit anderen Menschen. Zuerst bedarf er während Jahren der Brutpflege, damit er sich zu einem gesunden Erwachsenen entwickeln kann. Im Laufe seines Lebens ist er zur Bewältigung der Lebensaufgaben auf Austausch und Umgang mit anderen angewiesen. Deshalb, so sagen wir, ist das Wirbeltier Mensch ein soziales Wesen. Er ist somit zugleich Individuum als auch Teil eines Kollektivs.

Ein Kollektiv, in welchem unter seinen zahlreichen Individuen einigermassen Frieden herrschen soll, funktioniert vor allem auf Grund verbindlicher Regeln. Regeln bestimmen den Ausgleich zwischen den gegensätzlichen Interessen der Individuen unter sich und zu denjenigen des Kollektivs. Die Regeln, welche das Verhältnis des Individuums zur Gemeinschaft bestimmen, können sich somit theoretisch zwischen zwei Polen bewegen: dem Pol der absoluten Individualität und dem Pol des absoluten Kollektivs. Dem entsprechend ist die Position dieser Regeln auf der Linie, welche diese beiden Pole verbindet, vorab abhängig von der Kultur der jeweiligen Gemeinschaft, in welcher sie gelten.

Das Individuum vermag zufolge des ihm innewohnenden Verstandes selber Entscheidungen zu treffen und den Versuch zu unternehmen, sie durchzusetzen. Ein Kollektiv bedarf normalerweise besonderer Strukturen und Organe, um einen gemeinschaftlichen Willen zu bilden. Solche Strukturen bringen in aller Regel Führungsfiguren hervor. Sie weisen die Tendenz auf, die Regeln nach ihrem Gusto zu fassen. Das Individuum soll weniger, das Kollektiv – oder der Führer und die Führungsschicht – mehr zu sagen haben. Aktuelles Beispiel: Türkei. Dies führt zur Herrschaft der einen über die anderen. Wir erleben bei der Beobachtung dieser Vorgänge das Machtproblem.

In unserer westlichen Kultur hat sich die Auffassung entwickelt, diese Regeln müssten insbesondere dazu geeignet sein, dem Individuum einen möglichst grossen Freiraum offen zu halten. Dazu gibt es in der Geschichte zwar schon recht frühe Ansätze, etwa im antiken Athen oder in Persien. Massgebend dürfte der heute in der westlichen Welt, insbesondere der in Europa erreichte Zustand der Grundregeln, direkt auf die philosophische Grundhaltung zurückzuführen sein, welche wir Aufklärung nennen. Sie ist, so hat der deutsche Philosoph Immanuel Kant (1724-1804) in Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? gesagt:

… der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Sapere aude! Habe Mut, dich deines Verstandes zu bedienen, ist also der Wahlspruch der Aufklärung.

Es war die Aufklärung, die uns auch jene Gedanken gebracht hat, welche wir Menschenrechte nennen. Sie ist die Basis liberalen Denkens.

Aus Zeitgründen gehe ich hier nicht weiter auf die Details der Geschichte der Menschenrechte ein. Ich halte bloss fest, dass im Rahmen dieser geschichtlichen Bewegung die Stellung des Individuums in der Gemeinschaft zunehmend stärker geworden ist. Wir gehen heute in Europa grundsätzlich davon aus, dass das Wohl und das Schicksal des Individuums oberste Richtschnur staatlichen Agierens sein sollte. Dazu gehört:

  • der Anspruch auf Gleichbehandlung,
  • der Anspruch auf möglichst viel individuelle Gestaltungsfreiheit in Bezug auf das eigene Leben sowie
  • der Anspruch – aber auch die Verpflichtung – auf Solidarität.

Im Rahmen dieser grundsätzlichen Regelung spielt das Recht auf Selbstbestimmung des Menschen die zentrale Rolle. Es beruht auf der Überlegung, dass jeder Mensch gleich und frei geboren ist. Und es beruht auf der Überzeugung, dass Menschen Würde besitzen. Dazu wiederum Kant:

Die Wesen, deren Dasein zwar nicht auf unserem Willen, sondern der Natur beruht, haben dennoch, wenn sie vernunftlose Wesen sind, nur einen relativen Wert, als Mittel, und heißen daher Sachen, dagegen vernünftige Wesen Personen genannt werden, weil ihre Natur sie schon als Zwecke an sich selbst, d. i. als etwas, das nicht bloß als Mittel gebraucht werden darf, auszeichnet, mithin so fern alle Willkür einschränkt (und ein Gegenstand der Achtung ist).

Auf dieser Anschauung fusst das Recht auf Selbstbestimmung. Es schliesst die Macht oder gar die Willkür eines Dritten aus. Dieses Recht darf nur dann Beschränkungen unterworfen werden, wo deren Fehlen die Rechte Anderer oder höher zu gewichtende Interessen der Gemeinschaft gefährden. Die Herrschaft der Mächtigen soll damit durch die Herrschaft des Rechts ersetzt werden.

Diese Gedanken sind nun beispielsweise im Wortlaut von Artikel 8 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) wie folgt sehr einfach ausgedrückt worden:

(1) Jede Person hat das Recht auf Achtung ihres Privat- und Familienlebens, ihrer Wohnung und ihrer Korrespondenz.

(2) Eine Behörde darf in die Ausübung dieses Rechts nur eingreifen, soweit der Eingriff gesetzlich vorgesehen und in einer demokratischen Gesellschaft notwendig ist für die nationale oder öffentliche Sicherheit, für das wirtschaftliche Wohl des Landes, zur Aufrechterhaltung der Ordnung, zur Verhütung von Straftaten, zum Schutz der Gesundheit oder der Moral oder zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer.

Diese Bestimmung garantiert mit ihrem Absatz 1 das Recht auf Selbstbestimmung. Mit ihrem Absatz 2 hält sie fest, wie, unter welchen Bedingungen und zugunsten welcher Rechtsgüter der Staat in diese Rechte eingreifen, sie also beschränken darf.

In formeller Hinsicht verlangt Artikel 8 Absatz 2 EMRK, eine Einschränkung müsse in einem Gesetz vorgesehen sein. Unter dem Begriff «Gesetz» wird dabei eine Norm in einem formellen Gesetz, aber auch eine solche in einer Verordnung verstanden.

In sachlicher Hinsicht darf eine Einschränkung nur dort erfolgen, wo ganz klar bestimmte Rechtsgüter gefährdet sind:

  • Die nationale oder öffentliche Sicherheit;
  • das wirtschaftliche Wohl des Landes;
  • die Aufrechterhaltung der Ordnung;
  • die Verhütung von Straftaten;
  • der Schutz der Gesundheit oder der Moral;
  • der Schutz der Rechte und Freiheiten anderer.

Es genügt aber nicht jede beliebige Gefährdung, um eine Beschränkung des Selbstbestimmungsrechts zu rechtfertigen. Die Vorschrift enthält auch das Gebot der Verhältnismässigkeit: Eine Einschränkung darf nur erfolgen, sofern diese zum Schutz der erwähnten Rechtsgüter in einer demokratischen Gesellschaft notwendig ist.

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Strassburg (EGMR) hat diesen besonderen Begriff – die Notwendigkeit in einer demokratischen Gesellschaft – erstmals in seinem Urteil Handyside gegen das Vereinigte Königreich umschrieben. Er tat dies interessanterweise im Zusammenhang mit dem Rechtsgut der Moral. Dieses Rechtsgut wird durch menschliche Entscheidungen über Leben und Tod vorab berührt. Im Fall Handyside spielte die Moral eine Rolle im Zusammenhang mit der Äusserungsfreiheit; dort ging es um das sogenannte Kleine rote Schülerbuch. Dessen Verbreitung war durch englische Behörden zufolge dessen freiheitlicher Auffassungen zu Sexualität verboten worden. Sie befürchteten Nachteile in Bezug auf den Jugendschutz. Der Gerichtshof erklärte, es sei in erster Linie Aufgabe der staatlichen Behörden, darüber zu urteilen, ob ein zwingendes gesellschaftliches Bedürfnis vorliegt. Der Gerichtshof umschreibt somit diese Notwendigkeit in einer demokratischen Gesellschaft damit, es müsse ein zwingendes gesellschaftliches Bedürfnis – in den Originalsprachen des Urteils a pressing social need, un besoin social impérieux – gegeben sein, damit eine Beschränkung der in der EMRK niedergelegten Menschenrechte und Grundfreiheiten Bestand haben kann.

Damit hat uns der Gerichtshof eine Handreichung dazu gegeben, staatliche Einschränkungen des Selbstbestimmungsrechts daraufhin zu beurteilen, ob solche Beschränkungen eher zulässig oder aber eher unzulässig sind.

Ich will nun versuchen, einige Problemfelder aufzuzeigen, die sich in Bezug auf den Anfang und auf das Ende eines menschlichen Lebens hier einem Gemeinwesen unter dem Gesichtspunkt der Selbstbestimmung eines Individuums stellen können.

Oscar Wilde hat einmal gesagt, die einzigen Dinge, über die es sich lohne, ernsthaft zu sprechen, seien die lustigen. Gelegentlich drehe ich diesen Satz um und sage: Man darf ab und zu auch über ernsthafte Dinge etwas Lustiges sagen. Das Leben ist etwas Ernsthaftes. Doch es ist auch schon beschrieben worden als sexuell übertragbare Krankheit mit hundertprozentiger Mortalität. Der Tod gehört genauso zum Leben wie die Geburt.

Doch beginnen wir am Anfang von Leben: Eine Frau wird schwanger. Dies bedeutet, dass sich in ihrer Gebärmutter ein durch ein Spermium befruchtetes Ei einnistet. Dann kann sich ein Embryo entwickeln, der das Potential aufweist, nach erfolgter Lebendgeburt Person zu werden. Hat eine Frau dies als Schicksal hinzunehmen? Muss sie die Erschwernisse einer Schwangerschaft und die Anstrengungen und Schmerzen einer Geburt oder eines Kaiserschnitts auf sich nehmen? Oder darf sie schon die Einnistung der befruchteten Eizelle medikamentös verhindern oder nach der Nidation die Schwangerschaft abbrechen? Sind hier Interessen des Vaters oder auch des werdenden Kindes zu berücksichtigen? Schränken diese das Selbstbestimmungsrecht der Frau – Stichwort: Mein Körper gehört mir – ein?

Die europäischen Staaten haben hierzu keine einheitliche Meinung; wir lernen daraus, dass Moral abhängig sein kann von einem geographischen Ort. Wo immer in Europa in Bezug auf Auffassungen zu bestimmten Themen keine Übereinstimmung vorliegt, nimmt der EGMR an, den Staaten stehe ein weiter Ermessensbereich zur Verfügung.

Hier stellt sich oft die Frage, ob auf die Regierung oder die Bevölkerung eines Vertragsstaates abzustellen ist, wenn die Auffassungen von Regierung und Bevölkerung divergieren. In einem neueren Urteil des EGMR Oliari und andere gegen Italien (Beschwerde-Nr. 18766/11 und 36030/11) vom 21. Juli 2015, Ziff. 181, verweist der Gerichtshof auf die durch Statistikamt und Umfrageergebnisse nachgewiesene weitgehende Bereitschaft der italienischen Bevölkerung, Lebensgemeinschaften gleichgeschlechtlicher Personen der Ehe gleichzustellen.

Insoweit sich die Organe der EMRK mit dem Problem des Schwangerschaftsabbruchs befasst haben, lässt sich das Folgende feststellen:

Die Europäische Menschenrechtskommission hat schon früh erklärt, aus Artikel 8 EMRK könne nicht geschlossen werden, eine Schwangerschaft und deren Beendigung seien grundsätzlich nur eine Angelegenheit des Privatlebens der Mutter, und sie hat in diesem Zusammenhang später auch den Anspruch des Vaters auf Achtung des Privatlebens bestätigt. Der EGMR hat jedoch die Beschwerde eines Vaters gegen die Abtreibung des Fötus durch die Mutter für unzulässig erklärt. Einen Schutz des Fötus gegen Abtreibung haben die Strassburger Organe bislang nie bejaht.

Vom Standpunkt der «Moral» aus haben vor allem die mittlerweile aufgrund der Fortschritte der Medizin geschaffenen Möglichkeiten der Reproduktionsmedizin Fragen aufgeworfen. Der moderne Zweig dieser Medizin nahm seinen Anfang 1978, besteht somit bald vierzig Jahre. Damals gelang erstmals die Vereinigung einer Eizelle und eines Spermiums im Reagenzglas. Anschliessend wurde die befruchtete Eizelle der Mutter in die Gebärmutter eingepflanzt. Das dazu gehörige Fachwort ist In-Vitro-Fertilisation.

Wir sprechen im Zusammenhang mit Menschen, die daran interessiert sind, sich fortzupflanzen, generell von der Reproduktionsfreiheit. Geht es um die Verhinderung von Reproduktion, sprechen wir von der negativen Reproduktionsfreiheit: Verhütung, Verhinderung der Nidation, Schwangerschaftsabbruch. Geht es darum – trotz vorhandener Probleme, die vor 1978 medizinisch nicht lösbar waren –, sich reproduzieren zu können, sprechen wir von der positiven Reproduktionsfreiheit: Inanspruchnahme der Reproduktionsmedizin, um eine umständehalber bestehende Sterilität einer Person oder einer Personenzweiheit wenn immer (technisch und medizinisch) möglichst zu überwinden.

Im zeitlich beschränkten Rahmen eines solchen Vortrages ist es schlicht unmöglich, alle bislang vorhandenen Vorgehensarten im Bereich der Reproduktionsfreiheit einzeln zu behandeln. Ich beschränke mich deshalb auf wenige Bereiche.

Da gibt es beispielsweise den Wunsch von Menschen, die an einer erblichen Krankheit leiden. Sie möchten wenn immer möglich ein gesundes Kind bekommen und vermeiden, dass sich ihre krankmachende Anlage über weitere Generationen ausbreiten kann. Also ist es erforderlich, die Eigenschaften eines Embryos untersuchen und damit kennen lernen zu können. Je früher, desto besser. Zweck solcher Untersuchungen ist, herauszufinden, ob der Embryo die vermutete krankmachende Anlage aufweist. Ist dies der Fall, kann entschieden werden, ob ein Embryo in die Gebärmutter eingepflanzt werden soll oder nicht – da geht es um Präimplantationsmedizin –, oder ob die Schwangerschaft abgebrochen werden soll, wenn Untersuchungen erst stattgefunden haben, nachdem sich die Schwangerschaft ergeben hat.

Dabei gibt es das Problem des Unterschieds zwischen Männern und Frauen: Männer sind in der Lage, meist bis ins hohe Alter befruchtungsfähige Spermien zu bilden. Frauen altern ovariell verhältnismässig rasch. Ab etwa 35 Jahren weisen sie weniger entwicklungsfähige Eizellen auf. Das hat zur Folge, dass sie in fortgeschrittenem Alter immer seltener schwanger werden. Wenn die Fortpflanzungsmedizin es möglich macht, derartige Untersuchungen durchzuführen, um einen Kinderwunsch erfüllen zu können, muss das nicht nur zulässig sein; Frauen haben in solchen Fällen auch einen Anspruch darauf, dass die erforderlichen Untersuchungen durchgeführt werden können.

Dies ist auch aus einem anderen Grund wesentlich. In der Gesellschaft zeigt sich, dass Frauen im Durchschnitt ihre Kinder heutzutage wesentlich später gebären, als dies früher der Fall war: Die Vereinbarkeit von Beruf und Familie ist die dafür wesentliche Ursache: Auf die Ausbildung in jungen Jahren folgt die berufliche Tätigkeit, die Inanspruchnahme von Aufstiegschancen; das Kinderkriegen wird verschoben. Oft gelingt dann eine späte Schwangerschaft nur noch mit Hilfe der Reproduktionsmedizin. Eine der dazu möglichen Massnahmen: man sorgt rechtzeitig vor und lässt Eizellen und Spermien einfrieren, zu späterem Gebrauch. Was soll unter rechtlichen Gesichtspunkten dagegen sprechen? Auch hier haben Menschen einen Anspruch darauf, über die möglichen Risiken und die von der Wissenschaft erarbeiteten Untersuchungsmethoden informiert zu werden und diese in Anspruch zu nehmen.

Dies gilt insbesondere auch für Menschen, die ohne Hilfe der Reproduktionsmedizin keinerlei Möglichkeit hätten, eigene Kinder oder eigene gesunde Kinder zu bekommen, also ihre Gene weiterzugeben, ohne gleichzeitig eine Belastung, eine Krankheit, die auf defekten Genen beruht, weiterzugeben.

Damit wird deutlich: Das Anwendungsfeld der Reproduktionsmedizin findet sich dort, wo entweder eine Fortpflanzung auf natürlichem Wege scheitert, sowie dort, wo bei einer natürlichen Fortpflanzung negativ wirksame Gene weitergegeben würden.

Da die Reproduktionsmedizin mit lebendem Material umgeht – menschlichen Eizellen, menschlichen Spermien, menschlichen Embryonen – ist es unvermeidlich, dass sich dabei Fragen der Moral und der Ethik stellen.

Unter Moral verstehen wir nicht etwas weltweit Einheitliches. Moral nennen wir die Gewohnheiten, die Sitten, die Bräuche, die Wertvorstellungen, die Normen und Regeln menschlichen Handelns einer bestimmten Gruppe.

So etwa kann man sagen, die Zulässigkeit der Todesstrafe entspreche der Moral jener Gliedstaaten der USA, welche diese Art der Strafe (noch) anwenden, sie widerspreche jedoch der Moral der übrigen Gliedstaaten, welche sie mittlerweile abgeschafft haben.

Demgegenüber ist es Sache der Ethik, Moraleinstellungen zu diskutieren und von einem übergeordneten Gesichtspunkt aus zu werten. Gleichzeitig ist aber zu beachten, dass Ethik nicht etwas Eindeutiges und Unumstrittenes ist; häufig ist sie weltanschaulich gefärbt: Deshalb gibt es eine römisch-katholische Ethik, eine protestantische Ethik, eine jüdische Ethik, eine muslimische Ethik. Und, nicht zu vergessen, eine humanistische. Vieles würde einfacher werden, wenn der humanistischen Ethik universelle Wirkung zukäme.

Die humanistische Ethik ist in prägender Weise liberal: Sie belässt dem Individuum jegliche Freiheit der Entscheidung und des Handelns, soweit dadurch nicht schützenswerte Rechte und Freiheiten Dritter oder überwiegende Interessen der Gemeinschaft gefährdet oder verletzt werden. Demgegenüber beziehen religiös bestimmte Ethiken ihre «Wahrheiten» stets nur durch den Filter der jeweils eigenen Glaubensvorschriften. Einige unter ihnen wollen, dass diese auch für Andersgläubige verbindlich sein sollen.

Religiöser Glaube setzt nicht Rationalität voraus, sondern dass ein übergeordnetes, allmächtiges Etwas besteht, dem gehorcht werden soll. Dieses Etwas bewegt sich jenseits des Verstandes und der Vernunft. Meist steht es auch im Widerspruch zu den Gesetzen der Chemie und der Physik. Dennoch fordert es Beachtung. Im weltanschaulich neutralen und pluralistischen Staatswesen muss vor allem deshalb religiös motivierte Ethik in den Hintergrund treten, wenn es um Freiheitsrechte geht.

Auszugehen ist von der Staatsauffassung und dem Wertesystem, wie sie der grosse Staatsrechtler Zaccaria Giacometti (1893-1970), der an der Universität Zürich lehrte, festgehalten hat in Fleiner / Giacometti, Schweizerisches Bundesstaatsrecht, Zürich 1949, S. 241 f.:

Wie nun die Bundesverfassung stillschweigende Bundeskompetenzen enthält, hat sie auch stillschweigende Gewährleistungen von Freiheitsrechten zum Inhalt. Aus dem Sinn des Freiheitsrechtskatalogs der Bundesverfassung als eines liberalen Wertsystems lässt sich nämlich folgern, dass die Bundesverfassung jede individuelle Freiheit, die praktisch wird, das heisst durch die Staatsgewalt gefährdet ist, garantiert, und nicht allein die in der Verfassung ausdrücklich aufgezählten Freiheitsrechte.

In der praktischen Politik, wo Gesetze entstehen, wird dies gelegentlich zu wenig beachtet. Und seit Ethikkommissionen auf den verschiedensten Ebenen eingerichtet worden sind, drängen oft klerikal gesinnte Theologen unter der Marke und der Maske angeblicher Ethik an die Hebel im Vorzimmer der Macht. Darauf wird noch zurückzukommen sein.

Deshalb spielt in der Gesetzgebung der verschiedenen Staaten beispielsweise die katholische Auffassung, eine befruchtete menschliche Eizelle sei vom Augenblick an, in welchem das Spermium in die Eizelle eingedrungen ist, ein menschliches Wesen mit unsterblicher Seele, eine gewisse Rolle, selbst wenn rigorose Katholiken nicht nur einen Embryo, sondern auch ein nicht getauftes lebend geborenes Kind als Gräuel Gottes betrachten. Dies deshalb, weil es mit der Erbsünde belastet sei. Es war der Kirchenvater Augustinus, Bischof von Hippo in Nordafrika (354-430), welcher diese Erbsündenlehre geschaffen hat.

Dem entsprechend sind die rechtlichen Vorschriften, welche sich auf die Reproduktionsmedizin beziehen, in den verschiedenen Staaten nicht einheitlich. Je nach Einfluss der religiös bestimmten Kreise eines Landes auf die Politik entstehen zwischen den gesetzlichen Regelungen der verschiedenen Staaten Differenzen. Diese Differenzen schaffen ein rechtliches Ungleichgewicht zwischen Restriktion und Freiheit. Und wo immer ein solches Ungleichgewicht im Recht besteht, entsteht in der Folge Migration. Menschen wollen individuelle Freiheit; sie suchen dieseFrei heit dort, wo es sie gibt, wenn sie diese im eigenen Staate nicht finden. Ich nenne dies Freiheits-Tourismus.

Wir haben diese Wanderbewegungen, wie wir sie auch nennen könnten, im letzten Jahrhundert wohl am deutlichsten im Zusammenhang mit dem Problem von Verboten des Schwangerschaftsabbruchs erlebt. Doch noch heute müssen Frauen in der Republik Irland ihr Land verlassen, wenn sie eine Schwangerschaft straflos abbrechen wollen: Sie fahren nach England. Noch vor nicht allzu langer Zeit gab es solche Bewegungen auch in der Schweiz: Frauen aus Obwalden hatte keine Chance, in einem Krankenhaus ihres Kantons einen Schwangerschaftsabbruch vornehmen zu lassen; sie fuhren deshalb nach Zürich.

Wir kennen auch den sogenannten Suizidhilfe-Tourismus: Fast auf der ganzen Welt ist es gesetzlich nicht möglich, einen begleiteten, also fachgerecht vorbereiteten und mit sachkundiger Hilfe durchgeführten Suizid vorzunehmen. Wer dabei hilft, wird mit Strafe bedroht. In der Schweiz ist dies jedoch seit dem Inkrafttreten des Schweizerischen Strafgesetzbuches am 1. Januar 1942 nicht verboten, sofern der Helfer nicht aus selbstsüchtigen Beweggründen handelt. Deshalb hat sich in der Schweiz nach der Gründung von Exit A.D.M.D. in Genf im Januar 1982 und, unabhängig davon, Exit (Deutsche Schweiz) in Zürich im April 1982 etwa ab 1985 die Praxis der ärztlich unterstützten Freitodbegleitung etabliert. Doch die beiden Exit-Vereine lassen ihre Hilfe nur Personen angedeihen, welche in der Schweiz wohnhaft sind. Deshalb war Personen mit ausländischem Wohnsitz der Zugang zu dieser Freiheit verwehrt. Erst nachdem 1996 EX international und am 17. Mai 1998 auf der Forch der Verein Dignitas – Menschenwürdig leben – Menschenwürdig sterben gegründet worden war und diese keine derartigen Beschränkungen vorsahen, stand Personen mit ausländischem Wohnsitz diese Möglichkeit in der Schweiz ebenfalls zur Verfügung.

Der Verein Dignitas wurde durch sein öffentlich bekundetes Credo, dass Selbstbestimmung am Lebensende ein Menschenrecht sei, rasch bekannt. Keine Frage, dass die liberale Haltung von Dignitas konservative Kreise störte und weiterhin stört. In diesem schweizerischen Störkonzert stammen die lautesten Töne jedoch nicht von Schweizern, sondern vorwiegend von klerikal-kleinkarierten Deutschen. Diesen ist es gelungen, in der Schweiz gewissermassen als Fünfte Kolonne des deutschen Klerikalismus und Speerspitze der Gegner der Aufklärung Fuss zu fassen – man fühlt sich an die Gegenreformation erinnert.

Zählen wir diese fragwürdigen Figuren hier auf, indem wir Ross und Reiter nennen:

Da ist der deutsche Moraltheologe Markus Zimmermann-Acklin. Er lehrt an der Universität Freiburg im Uechtland. In seiner Dissertation Euthanasie. Eine theologisch-ethische Untersuchung lehnt er den begleiteten Suizid rigoros ab. Dies hat ihn offensichtlich dazu qualifiziert, Einsitz in eine Subkommission der Zentralen Ethikkommission der Schweizerischen Akademie der Medizinischen Wissenschaften (SAMW) zu nehmen. Diese soll die längst überholten «Medizin-ethischen Richtlinien Betreuung von Patientinnen und Patienten am Lebensende» revidieren. Er ist auch Mitglied der Nationalen Ethikkommission in der Humanmedizin (NEK) und wirkt als deren Vizepräsident. Der Schweizerische Nationalfonds bestimmte ihn überdies zum Präsidenten der Leitungsgruppe des Nationalen Forschungsprogramms 67 Lebensende (NFP 67). Er hat den Entwurf zum Grundlagenpapier Alterssuizid als Herausforderung ethischer Erwägungen im Kontext der Lebensende-Diskurse und von Palliative Care. Ein Diskussionsbeitrag in christlichsozialethischer Perspektive der katholischen Schweizerischen Nationalkommission Justitia et Pax verfasst, einer Einrichtung der Schweizer Bischofskonferenz.

Da ist der deutsche Theologieprofessor Frank Mathwig. Als Beauftragter für Theologie und Ethik am Institut für Theologie und Ethik (ITE) des Schweizerischen Evangelischen Kirchenbundes (SEK) in Bern bestimmt er massgeblich die schweizerische protestantische Ethik. Er will für die Diskussion um Sterbehilfe in der Schweiz eigene Regeln einführen, wie aus dem Krebsbulletin 01/2017 hervorgeht: Es sei nicht zulässig, äusserte er, in dieser Debatte Einzelschicksale von Personen mit ihren Krankheiten und Belastungen zu schildern, wenn es um die Frage gehe, ob Hilfe zum Suizid ethisch zulässig sei oder nicht.

Da ist die deutsche Rechtsprofessorin Brigitte Tag, die an der Universität Zürich lehrt. Sie hielt auf einer Tagung der Reformierten Landeskirche Aargau einen Vortrag und schlug darin dem Bundesrat allen Ernstes einen Gesetzesentwurf gegen Sterbehilfe vor, der von der deutschen Länderkammer in Berlin längst wegen erheblicher Bedenken der Verfassungswidrigkeit gekippt worden war. Auch sie wirkt in der Leitungsgruppe des NFP 67 mit.

Da ist der deutsche katholische Theologe Markus Mettner, vor Jahren bei der Paulus-Akademie in Zürich-Witikon tätig. Er betreibt seit längerem das Forum Gesundheit und Medizin. Dieses veranstaltet Kongresse, an welchen vor allem kirchentreue Personen ihre konservativen Ideen präsentieren.

Da ist die deutsche Theologin Nina Streek. Sie bestimmte bei der NZZ am Sonntag von 2012-2015 die ablehnende Haltung des Blattes in Bezug auf Beihilfe zum Suizid. Seit 2015 wirkt sie an der Universität Zürich als Assistentin an der Professur für Spiritual Care. Dieser Lehrstuhl an der Theologischen Fakultät ist von den beiden Grosskirchen finanziert.

Wir sollten uns davor hüten, derart religiös-fundamentalistisch gesinnten ausländischen Agenten des Illiberalismus die Möglichkeit zu bieten, die im 19. Jahrhundert erkämpfte liberale schweizerische Ordnung von innen her auszuhöhlen. Es ist unklug, Brandstifter im eigenen Haus zu bewirten. Das hat schon Max Frisch in seinem Stück Biedermann und die Brandstifter deutlich gezeigt. Das Beispiel Deutschland zeigt, wohin das führt. Deutschland ist ein Staat, der stark von klerikalem Schimmel durchwachsen ist. Ähnlich wie ein Roquefort-Käse, durch und durch mit grünem Schimmel durchsetzt, und schon gar nicht ausreichend demokratisch legitimiert. Aus dieser seltsamen germanischen Kultur, welcher das Gift gegen freiheitliche und humanistische Lösungen inhärent ist, sollten wir uns für die Gestaltung unserer Rechtswirklichkeit keine Hilfe holen. Wer darüber mehr wissen will, lese das Buch von Carsten Frerk, Kirchenrepublik Deutschland.

Nun ist Recht haben nicht immer dasselbe wie Recht bekommen: Man kann überzeugt sein, ein Recht zu besitzen, und man macht die Erfahrung, dass die Obrigkeit dies anders sieht. Da steht man dann vor dem Problem, wie man sein Recht durchsetzt. So habe ich beispielsweise in einem Aufsatz mit dem Titel Das Recht auf den eigenen Tod in der Schweizerischen Juristen-Zeitung im Dezember 1999, also vor etwa 18 Jahren, die Auffassung vertreten:

Wenn das Recht auf den eigenen Tod besteht – und daran gibt es auf Grund der EMRK keinen Zweifel –, dann hat der Staat dieses Recht zu achten und darf seine Ausführung weder besonders erschweren noch dazu beitragen, dass die Ausübung dieses Rechts in vielen Fällen die betroffene Person oder gar Dritte erheblich schädigt. Sterbewillige haben demnach sogar Anspruch darauf, dass es ihnen die staatlichen Gesetze erlauben, ohne Inanspruchnahme Dritter, insbesondere von Ärzten – die objektiv gesehen nicht selten handfeste finanzielle Interessen am Weiterleben Kranker haben –, vom Apotheker das für einen sanften und praktisch risikolosen Tod durch Einschlafen erforderliche Medikament beziehen zu dürfen.

Das Dignitas-Mitglied Ernst Haas hatte 2004 versucht, von einem Arzt ein Rezept für 15 Gramm Natrium-Pentobarbital (NaP) zu bekommen, um seinem Leben und Leiden mit Hilfe von Dignitas ein Ende setzen zu können. Da kein Arzt bereit war, ihm dieses Rezept auszustellen – er litt an einer bipolaren Störung; war also schwer psychisch krank –, verlangte er von den Zürcher Behörden und vom Bundesamt für Gesundheit Zugang zum Medikament. Beide lehnten dies ab. Dagegen legte er Rechtsmittel ein, so dass schliesslich das Bundesgericht in Lausanne darüber zu befinden hatte.

In seinem Urteil vom 3. November 2006 hielt das Bundesgericht fest:

Zum Selbstbestimmungsrecht im Sinne von Art. 8 Ziff. 1 EMRK gehört auch das Recht, über Art und Zeitpunkt der Beendigung des eigenen Lebens zu entscheiden; dies zumindest, soweit der Betroffene in der Lage ist, seinen entsprechenden Willen frei zu bilden und danach zu handeln.

Es sagte zudem:

[E]in Anspruch des Sterbewilligen, dass ihm Beihilfe bei der Selbsttötung oder aktive Sterbehilfe geleistet wird, wenn er sich ausserstande sieht, seinem Leben selber ein Ende zu setzen, besteht nicht.

Dem Bundesgericht war auch beantragt worden, festzuhalten, es genüge, wenn eine Sterbehilfeorganisation den Zugang zum Sterbemittel kontrolliere, dazu brauche es kein ärztliches Rezept. Dies jedoch hat das Bundesgericht abgewiesen. Es will, dass ein Arzt der sogenannte Gatekeeper ist, welcher entscheidet, ob ein solcher Zugang erlaubt wird oder nicht. Das bedeutet aber auch: Weil ein Arzt nur dann ein Rezept schreiben darf, wenn eine medizinische Diagnose vorliegt, entsteht ein Problem: Darf der Arzt auch einer körperlich und geistig gesunden Person, die ihr Leben beenden will, ein Rezept schreiben? Diese Frage ist von den Gerichten noch nicht beantwortet worden.

In Bezug auf psychische Krankheiten sagte das Bundesgericht:

Es ist nicht zu verkennen, dass eine unheilbare, dauerhafte, schwere psychische Beeinträchtigung ähnlich wie eine somatische ein Leiden begründen kann, das dem Patienten sein Leben auf Dauer hin nicht mehr als lebenswert erscheinen lässt. Nach neueren ethischen, rechtlichen und medizinischen Stellungnahmen ist auch in solchen Fällen eine allfällige Verschreibung von Natrium-Pentobarbital nicht mehr notwendigerweise kontraindiziert und generell als Verletzung der medizinischen Sorgfaltspflichten ausgeschlossen.

Aber, so sagte das Bundesgericht weiter:

Es gilt zwischen dem Sterbewunsch zu unterscheiden, der Ausdruck einer therapierbaren psychischen Störung ist und nach Behandlung ruft, und jenem, der auf einem selbst bestimmten, wohlerwogenen und dauerhaften Entscheid einer urteilsfähigen Person beruht (Bilanzsuizid), den es gegebenenfalls zu respektieren gilt. Basiert der Sterbewunsch auf einem autonomen, die Gesamtsituation erfassenden Entscheid, darf unter Umständen auch psychisch Kranken Natrium-Pentobarbital verschrieben und dadurch Suizidbeihilfe gewährt werden.

Und eben dies sei durch ein vertieftes fachärztliches Gutachten nachzuweisen. Ernst Haas hat dann an 170 Psychiater in der Region Basel – notariell überprüft und bestätigt – einen Brief geschrieben und gefragt, ob einer bereit sei, ihn in diesem Sinne zu begutachten. Doch keiner war dazu bereit; einige wollten ihn behandeln.

Aufgrund dieser ablehnenden Haltung der Mediziner hat sich Ernst Haas dann an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in Strassburg gewandt. Dort machte er geltend, das Bundesgericht setze eine unerfüllbare Bedingung, und dadurch werde er in seinem Recht auf Achtung seines Privatlebens verletzt.

Am 20. Januar 2011 hat der EGMR seine Beschwerde abgewiesen. Er spekulierte, wenn Haas seinen Brief wesentlich anders formuliert hätte, wäre ein Psychiater vielleicht bereit gewesen, ihn zu begutachten. Gleichzeitig aber, und das ist von grösster Bedeutung, hat der EGMR seine bisherige Rechtsprechung dargelegt, die Auffassung des Bundesgerichtes bestätigt und gesagt:

Im Lichte dieser Rechtsprechung hält der Gerichtshof dafür, dass das Recht eines Individuums, zu entscheiden, auf welche Weise und in welchem Zeitpunkt sein Leben beendet werden soll, sofern es in der Lage ist, seine diesbezügliche Meinung frei zu bilden und dem entsprechend zu handeln, einen der Aspekte des Rechts auf Achtung des Privatlebens im Sinne von Artikel 8 der Konvention darstellt.

Damit war nun für den gesamten Geltungsbereich der EMRK in Europa klar entschieden, dass es jedenfalls das Menschenrecht auf den eigenen Tod gibt. Wenn dies aber ein Menschenrecht ist, dann darf ein solcher Anspruch nicht auf Personen beschränkt werden, bei welchen eine schwere Krankheit diagnostiziert worden ist. Menschenrechte sind bedingungsfeindlich.

Das spielt vor allem dann eine Rolle, wenn bei einem Ehepaar beide Partner gleichzeitig und gemeinsam ihr Leben beenden möchten: der eine ist schwer krank, der andere möchte ohne den einen nicht weiterleben. In einer solchen Situation sehen sich Ärzte in einer schwierigen Lage: Wohl ist ein Rezept für den kranken Partner zulässig, doch wie steht es in Bezug auf den gesunden?

Das Gesetz sagt dazu nichts. Es gibt dazu auch keine ärztliche Berufsregel. In dieser Hinsicht hat jene Instanz, welche Berufsregeln entwickeln sollte, kläglich versagt: Die Schweizerische Akademie der Medizinischen Wissenschaften (SAMW) hat vor vielen Jahren – 2004 – Medizin-ethische Richtlinien Betreuung von Patientinnen und Patienten am Lebensende aufgestellt. Darin wird festgehalten, Beihilfe zum Suizid sei keine ärztliche Aufgabe. Entschliesse sich der Arzt jedoch dazu, einem Patienten bei einem Suizid zu helfen, müssten die folgenden Voraussetzungen beachtet werden:

Entschliesst er sich zu einer Beihilfe zum Suizid, trägt er die Verantwortung für die Prüfung der folgenden Voraussetzungen:

  • Die Erkrankung des Patienten rechtfertigt die Annahme, dass das Lebensende nahe ist.
  • Alternative Möglichkeiten der Hilfestellung wurden erörtert und soweit gewünscht auch eingesetzt.
  • Der Patient ist urteilsfähig, sein Wunsch ist wohlerwogen, ohne äusseren Druck entstanden und dauerhaft. Dies wurde von einer unabhängigen Drittperson überprüft, wobei diese nicht zwingend ein Arzt sein muss.

Dabei sind die Funktionäre, welche diesen Text erarbeitet haben, fälschlicherweise davon ausgegangen, sie würden mit dieser Formulierung Ärzten verbieten, Suizidhilfe an Personen zu leisten, bei welchen nicht angenommen werden muss, das Lebensende sei nahe. Diese Annahme haben das Strafgericht Basel und das Kantonsgericht Neuenburg in Urteilen mit deutlichen Worten und überzeugend widerlegt: Beide Gerichte haben festgestellt, dass sich die Richtlinien nur auf bald sterbende Personen beziehen können. Seither bastelt die SAMW an neuen Formulierungen. Auf die Idee, sich mit denjenigen Organisationen auszutauschen, welche in der Schweiz die Selbstbestimmung im Leben und am Lebensende sichern, sind die Herrschaften bislang aber nicht gekommen. Halsverrenkungen im Elfenbeinturm!

Am 2. März 2017 hat allerdings das deutsche Bundesverwaltungsgericht in Leipzig ein weiterführendes Urteil gefällt:

Das allgemeine Persönlichkeitsrecht aus Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG umfasst auch das Recht eines schwer und unheilbar kranken Patienten, zu entscheiden, wie und zu welchem Zeitpunkt sein Leben beendet werden soll, vorausgesetzt, er kann seinen Willen frei bilden und entsprechend handeln. Daraus kann sich im extremen Einzelfall ergeben, dass der Staat den Zugang zu einem Betäubungsmittel nicht verwehren darf, das dem Patienten eine würdige und schmerzlose Selbsttötung ermöglicht.

Da ist nun erstmals höchstgerichtlich eine Pflicht des Staates festgehalten worden, den Zugang zu einem solchen Betäubungsmittel nicht zu verwehren. Allerdings wiederum nur für schwer und unheilbar Kranke. Offensichtlich sind sich die Gerichte der Tatsache zu wenig bewusst, dass sie mit solchen Formulierungen das eine Unrecht – die Verweigerung des Zugangs zu diesen Mitteln – durch ein anderes Unrecht – die Schaffung einer unzulässigen Diskriminierung – ersetzen. Zudem ist in der Wissenschaft darauf hingewiesen worden, dass sich der Staat dafür zu rechtfertigen hat, wenn er den Zugang zu Natrium-Pentobarbital verweigern will.

Sie sehen, wie kompliziert es sein kann, die Durchsetzung eines eigentlich ganz einfachen und simplen Rechts gegen den Widerstand von Auffassungen von Behörden und klerikal-konservativen Kräften durchzusetzen. Auch Fragen der Reproduktionsmedizin, also solche am Anfang des Lebens, haben in Europa vielfältig die Gerichte beschäftigt. Ich berichte abschliessend nur kurz von einigen Fällen, die vom EGMR in Strassburg entschieden worden sind. Wer dazu mehr wissen möchte, hat die Möglichkeit, sich auf der Website des EGMR die entsprechenden Merkblätter anzusehen.

Kirk Dickson befand sich für 15 Jahre im Gefängnis. Ihm wurde die Möglichkeit der künstlichen Befruchtung verweigert, so dass er mit seiner Frau kein Kind haben könnte, denn nach seiner zukünftigen Entlassung wäre sie kaum mehr fruchtbar. Der EGMR entschied, die britischen Behörden hätten nicht für einen fairen Ausgleich zwischen den verschiedenen privaten und öffentlichen Interessen gesorgt. Das Urteil führte dazu, dass Dickson, nachdem er sich im offenen Vollzug befand, Heimaturlaub bekam. Zudem wurde gesetzlich ermöglicht, dass Gefangenen Zugang zu künstlicher Befruchtung gewährt wird.

Zwei österreichische Ehepaaren, die an Unfruchtbarkeit leiden, war künstliche Befruchtung durch österreichische Gesetze unmöglich gemacht.Der EGMR fand keine Verletzung der EMRK, denn den EMRK-Staaten stehe ein weiter Beurteilungsspielraum zur Verfügung, um solche Fragen zu regeln. Sie würden heikle ethische Fragen vor dem Hintergrund dynamischer wissenschaftlicher Entwicklungen aufwerfen. Immerhin müssten die Staaten diese Entwicklung weiter überprüfen.

Im tief katholischen Polen wurde einer zweifachen Mutter, die erneut schwanger war mit einem Kind, das an einer schweren genetischen Anomalie leidet, der rechtzeitige Zugang zu entsprechenden Tests verwehrt, so dass eine informierte Entscheidung über einen Schwangerschaftsabbruch nicht möglich war. Der Gerichtshof stellte eine Verletzung des Verbots unmenschlicher Behandlung (Artikel 2 EMRK) fest. Staaten sind verpflichtet, ihr Gesundheitswesen so zu gestalten, dass Ärzte Patienten nicht daran hindern können, Zugang zu gesetzlich garantierten medizinischen Leistungen zu erhalten.

Ebenfalls in Polen wurde einer Frau ein Schwangerschaftsabbruch verweigert, obschon die Gefahr bestand, dass sie wegen bereits vorhandener Augenprobleme vollständig erblinden könnte. Nach der Geburt erlitt sie eine Netzhautblutung und musste als Schwerbehinderte anerkannt werden. Der EGMR stellte eine Verletzung von Artikel 8 fest, weil ihr kein effektives Verfahren zur Verfügung gestanden hat, mit dem sie hätte klären können, ob die Voraussetzungen eines legalen Schwangerschaftsabbruchs vorliegen.

In Ungarn dürfen Hebammen bei Hausgeburten nicht mitwirken, ohne sich strafbar zu machen. Dies hat der EGMR als Verletzung von Artikel 8 erkannt, weil sich Frauen deshalb nicht frei für eine Hausgeburt entschliessen können.

Ein italienisches Paar, beide zwar gesund, aber Träger der Anlage für zystische Fibrose, wollten mit Hilfe der Reproduktionsmedizin für gesunden Nachwuchs sorgen. Da das italienische Recht die Untersuchung von Embryonen verbietet, jedoch die Abtreibung zulässt, wenn festgestellt wird, dass das heranwachsende Kind Symptome genau dieser Krankheit aufweist, stellte der EGMR eine Verletzung von Artikel 8 fest, weil das italienische Recht in sich selbst widersprüchlich ist.

Das ist nur eine ganz kleine Auslese aus der Praxis des EGMR.

Sie sehen, meine Damen und Herren, Selbstbestimmung am Anfang des Lebens und am Ende des Lebens muss erkämpft und die gewonnene Freiheit immer wieder verteidigt werden, damit sie nicht wieder zunichte gemacht wird. Rudolf von Jhering (1818-1892), der grosse deutsche Jurist, hat dies auf eine ganz einfache Formel gebracht. Der Kampf ums Recht ist ein Kampf, der nie zu Ende geht. Die Freiheit ist stets von der Macht bedroht.

Das Wissen um diese Situation ist ausreichend, um sich klar zu machen, dass jeder einzelne von uns ein eminentes Interesse daran hat, dass auch für die Schweiz weiterhin die Möglichkeit besteht, sich in solchen Fragen letztinstanzlich an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte wenden zu können. Wir haben somit allen Anlass, diesen Gedanken in die Debatte um die irreführend Selbstbestimmungsinitiative genannte Vogt-Initiative der SVP zu tragen und diese zu bekämpfen.

Um nun den bereits erwähnten Rudolf von Jhering abschliessend auch noch wörtlich zu zitieren:

Recht ist unausgesetzte Arbeit und zwar nicht bloß der Staatsgewalt, sondern des ganzen Volkes. Jeder Einzelne, der in die Lage kommt, sein Recht behaupten zu müssen, übernimmt an dieser nationalen Arbeit seinen Anteil, trägt sein Scherflein bei zur Verwirklichung der Rechtsidee auf Erden.

Der gemeinnützig arbeitende Verein Dignitas – Menschenwürdig Leben – Menschenwürdig Sterben widmet sich seit seiner Gründung 1998 dieser wichtigen Arbeit der Weiterentwicklung des Rechts in diesem Bereich. Er möchte, dass weltweit in diesen Fragen dem Individuum möglichst viel Freiheit zur Verfügung steht. Selbstbestimmung und Wahlfreiheit am Beginn des Lebens und am Lebensende muss immer wieder gegen Widerstände erkämpft und verteidigt werden.

Wem solche Freiheit wichtig ist, sollte deshalb überlegen, wie er diesen Kampf selber führen oder unterstützen kann. Freies Denken ist doch wohl nur dann möglich, wenn es gesellschaftlich relevant praktiziert wird. Es sollte nicht bloss in der Nische einer Gruppe ein bescheidenes Dasein fristen, sondern in die ganze Gesellschaft ausstrahlen. Mit der heutigen Veranstaltung haben Sie sich dafür eingesetzt, und dafür danke ich Ihnen.

Reproduktionsmedizin

Informationen

Präimplantationsdiagnostik
http://sgemko.com/2pJs5Rs
Pränataldiagnostik
http://www.fetus.ch/

Techniken

Techniken der Reproduktionsmedizin werden dort eingesetzt, wo eine natürliche Zeugung auf Schwierigkeiten stösst oder scheitert. In den letzten vierzig Jahren sind insbesondere die folgenden Techniken entwickelt worden:

  • Intrauterine Insemination (IUI)
  • Intratubare Insemination (ITI)
  • Gamete-Intra-Fallopian-Transfer (GIFT)
  • Zervikal-Intra-Fallopian-Transfer (ZIFT)
  • In-vitro-Fertilisation (IVF)
  • Intrazytoplasmatische Spermieninjektion (ICSI)

Ausserdem zählen wir zur Reproduktionsmedizin auch diagnostische Verfahren zur Beurteilung von befruchteten Eizellen oder Embryos mit dem Ziel, wenn immer möglich bei der Anwendung der vorstehenden Techniken nur Nachwuchs zu erzielen, der keine genetische Defekte aufweist. Bei diesen Untersuchungen kann auch das Geschlecht erkannt werden. Es handelt sich dabei um die folgenden Verfahren:

  • Präimplantationsdiagnostik (PID)
  • Polkörperdiagnostik (PKD)

Weitere Problemfelder

  • Eizellenspende
  • Leihmutterschaft
  • Einfrieren von menschlichen Eizellen und menschlichem Sperma
  • Drei-Eltern-Kinder (Kern-Transfer)

Begriffe der Lebensende-Hilfe

Direkte aktive Sterbehilfe auf Verlangen
der Sterbewillige fordert Dritte auf, sein Leben zu beenden, z.B. durch Injektion eines letalen Medikaments. Diese Tötung auf Verlangen ist in der Schweiz verboten – jedoch in Belgien, Holland und Luxemburg unter eng umschriebenen Bedingungen durch Ärzte erlaubt.
Direkte aktive Sterbehilfe ohne ausdrückliches Verlangen
diese ist verboten. Euthanasie: aus dem Griechischen stammend, für guter, leichter, richtiger, schöner Tod, haften diesem Begriff Bedeutungen an, welche von verschiedenen Formen von Sterbehilfe, über die Einschläferung von Tieren bis hin zu den Gräueltaten zur Zeit des Nationalsozialismus reichen. Da zuwenig präzise, soll dieser Begriff nicht im Zusammenhang mit der Suizidhilfe verwendet werden.
Freitodbegleitung
Mischung aus Elementen der Hilfe zur Selbsttötung und der Sterbebegleitung; sie entspricht am ehesten, was den Mitgliedern von Organisationen wie DignitasExit, etc. ermöglicht wird. Der Sterbewillige nimmt einen gut vorbereiteten, wohl überlegten Suizid vor – wird dabei aber nicht alleine gelassen, sondern betreut und begleitet, möglichst immer in Anwesenheit von Familie und Freunden, wo immer möglich bei ihm zuhause.
Indirekte aktive Sterbehilfe
dem Patienten werden Medikamente zur Linderung von Leiden verabreicht, die als unbeabsichtigte, aber nicht vermeidbare Nebenwirkung die Lebensdauer vermindern bzw. den Eintritt des Todes beschleunigen können. Beispiel: Palliative Behandlung von Krebspatienten im Endstadium. Diese Form der Sterbehilfe ist im Gesetz nicht ausdrücklich geregelt, gilt grundsätzlich aber als erlaubt und wird weltweit praktiziert.
Palliativbehandlung
(auch Palliative Care): alle Massnahmen, die das Leiden eines unheilbar kranken Menschen lindern und ihm so eine bestmögliche Lebensqualität bis zum Ende verschaffen. Die Palliativbehandlung ist eine Therapie mit palliativer Zielsetzung, das heisst zum Beispiel bei nicht heilbarem Tumorleiden die Linderung oder Prophylaxe tumorbedingter Symptome. Dabei kommen Mittel (Palliativa) zum Einsatz, welche nicht die Ursache behandeln, sondern nur die Symptome. Palliative Care entspricht einer Haltung und Behandlung, welche die Lebensqualität von Patienten und ihren Angehörigen verbessern soll, wenn eine lebensbedrohliche Krankheit vorliegt. Sie erreicht dies, indem sie Schmerzen und andere physische, psychosoziale und spirituelle Probleme frühzeitig und aktiv sucht, immer wieder erfasst und angemessen behandelt.
Passive Sterbehilfe (sterben lassen)
Verzicht auf Ergreifung von lebenserhaltenden und -verlängernden Therapien, Abbruch von Behandlungen, Nahrungs- und Flüssigkeits-Verzicht. Sie ist legal. Sterbebegleitung: auch als Hilfe beim Sterben bezeichnet. Umfasst jede medizinische Unterstützung und mitmenschliche Betreuung von Sterbenden, soweit keine lebensverkürzende Wirkung vorliegt. Der Sterbende wird nicht alleine gelassen, sondern begleitet; es ist jemand bei ihm.
Sterbehilfe
ein ungenauer Sammelbegriff, unter dem verschiedene Formen von Hilfe beim Sterben zusammengefasst werden. Suizidhilfe (Hilfe zur Selbsttötung): im Gegensatz zur direkten aktiven Sterbehilfe liegt bei der Suizidhilfe die Tatherrschaft über das Geschehen bei der sterbewilligen Person. Der Patient entscheidet über sein eigenes Lebensende und führt den letzten Akt auch selbst aus. In der Schweiz ist diese Hilfe erlaubt, solange keine selbstsüchtigen Beweggründe dafür entscheidend sind (Art. 115 des Schweizerischen Strafgesetzbuches).
Terminale Sedierung (auch Palliative Sedierung)
meistens ein medikamentös induziertes (“künstliches”) Koma. Es wird in der Palliativmedizin bei Patienten in der Terminalphase eingesetzt, wenn der Patient sein Leiden als unerträglich empfindet und die Sedierung ausdrücklich wünscht. Grundsätzlich fällt unter diesen Begriff jede bewusstseinsbeeinträchtigende Massnahme, die die Linderung der belastenden Symptome am Lebensende zum Ziel hat. Eine Palliativbehandlung kann in eine Terminale Sedierung münden. Beispiel: ein Patient hat verfügt, dass er nicht maschinell beatmet werden will. Eine zunehmende Atemnot (z.B. aufgrund von Lungenkrebs) wird palliativ zunächst mit angepassten Morphingaben behandelt. Ist dies nicht ausreichend oder besteht tatsächlich die Gefahr des Erstickens, der man nur durch die nicht gewünschte maschinelle Beatmung entgehen kann, wird eine Terminale Sedierung eingeleitet.