CH: Mitgliederzahl der Freikirchen stagniert

NZZ Der «Markt» der Freikirchen ist hart. Grosse Kirchen haben rund ein Drittel ihrer Mitglieder verloren. Andere müssen darum kämpfen, den Bestand zu halten. Der Boom beschränkt sich auf charismatische Gemeinden. Nur pfingstlerische Gemeinden konnten in den letzten Jahren zulegen

Während der vergangenen Wochen fand die evangelikale Freikirche International Christian Fellowship (ICF) viel mediales Interesse. Mit einer Mischung von trendigem Auftritt und konservativer Botschaft schaffte es die ICF, innerhalb von 15 Jahren einige tausend vor allem junge Anhänger zu gewinnen. Von einem solchen Boom können viele Freikirchen nur träumen. Ein Blick in die Statistiken zeigt, dass es unter den freien Gemeinschaften mindestens so viele Verlierer wie Gewinner gibt.

Gewinner und Verlierer

Abgesehen von einzelnen Trendkirchen konnten in den vergangenen 20 Jahren auf breiter Front einzig die Gemeinden der Schweizerischen Pfingstmission namhaft zulegen. Sie steigerten ihre Mitgliederzahl von rund 5600 auf 9400. Umgekehrt erging es der evangelisch-methodistischen Kirche (EMK). Die lange Zeit grösste Freikirche der Schweiz verlor in den vergangenen zwei Jahrzehnten rund ein Drittel ihrer Anhänger und umfasst heute noch 6500 Personen. Auch die Heilsarmee verzeichnet einen ähnlich hohen Aderlass, während die Chrischona-Gemeinden sowie die freien evangelischen Gemeinden (FEG) ihre Mitgliederzahlen halten konnten.

Dass die Freikirchen insgesamt bestenfalls stagnieren, bestätigt der Religionssoziologe Jürg Stolz von der Universität Lausanne: «Die klassischen Freikirchen haben Mühe, ihre Mitglieder zu halten.» Einen Boom erlebten pfingstlerische und charismatische Gemeinden, bei denen Emotionen und das Erleben des Glaubens im Zentrum stehen. Darunter gebe es neu gegründete Gemeinden wie die ICF. «Ob diese in zehn oder zwanzig Jahren auch noch wachsen, ist fraglich», sagt Stolz. Auch gelinge es diesen Gemeinden nur teilweise, Leute ausserhalb der freikirchlichen Szene anzuwerben. «Ein grosser Teil des Wachstums geht auf Kosten von andern Gemeinschaften.»

Max Schläpfer, Leiter der Schweizer Pfingstmission, sieht den Erfolg seiner Gemeinden darin begründet, dass sie konsequent missionarisch ausgerichtet seien und das Evangelium lebensnah verkündigten. «Wir sind überzeugt, dass uns Gott im Alltag hilft», sagt er und weist auf Heilungen von Kranken hin. Allerdings ist sich Schläpfer bewusst, dass einfache Rezepte allein die Gemeinden noch nicht wachsen lassen. «Die Begabung des Gemeindeleiters spielt eine wichtige Rolle.» Bei der Pfingstmission ist das offensichtlich: Einen grossen Teil des Wachstums brachte das Christliche Zentrum Buchegg in Zürich, wo nun jeden Sonntag 2500 Personen den Gottesdienst besuchen.

Gelockerte Bindungen Zurückhaltend gibt sich der Leiter der Chrischona-Gemeinden Schweiz, René Winkler. Seine Gemeinden konnten in den letzten Jahrzehnten die Mitgliederzahlen auf demselben Niveau behalten. Allerdings sieht die Entwicklung der Chrischona-Gemeinden sehr unterschiedlich aus. Ein Drittel der Gemeinden wächst, ein Drittel stagniert, und ein weiteres Drittel verliert Mitglieder. «Bei uns legen vor allem grosse Gemeinden zu», sagt Winkler.

Als die Trendkirche ICF aufkam, habe die Chrischona Jugendliche an die Jugendkirche verloren. Ganz allgemein sei die Bindung der Mitglieder an freikirchliche Gemeinden heute loser als früher, stellt Winkler fest. «Wenn sich jemand an etwas stört, wechselt er die Gemeinde.» Dabei stünden oft nicht theologische Auseinandersetzungen im Mittelpunkt, sondern Fragen des Gottesdienststils oder der Musik.

Unzufriedenheit sei oft auch bei der EMK der Grund für Abgänge, sagt Markus Bach. Seine Kirche hat in den letzten 40 Jahren mehr als die Hälfte ihrer Mitglieder verloren. «Die EMK will eine Freikirche für alle Altersstufen und Frömmigkeitsstile sein», sagt der methodistische Pfarrer. Auch wenn diese grosse Bandbreite zu Abgängen geführt habe, halte die Kirche an dieser Ausrichtung fest. Eine Schwierigkeit sei, dass die EMK an vielen Orten kleine Gemeinden unterhält. «Die Ansprüche der Gläubigen sind gewachsen», sagt Bach. Heute brauche es für eine attraktive Gemeinde neben einem Pfarrer weitere Mitarbeitende, geeignete Räume und eine Jugendarbeit. «Ein solches Angebot können oft nur grössere Gemeinden bieten.»

Natürliche Stärken Ob Freikirchen wachsen oder Mitglieder verlieren, hängt für den Soziologen Jürg Stolz allerdings nur teilweise mit dem Frömmigkeitsstil oder dem Angebot zusammen. «Der natürliche Nachwuchs oder die Gebärfreudigkeit der Freikirchlerinnen ist ein ebenso wichtiger Faktor.» Aus diesem Blickwinkel haben die Chrischona-Gemeinden und die Methodisten zumindest langfristig gute Chancen: Ihre Frauen gebären im Durchschnitt knapp zwei Kinder. Die Pfingstler bringen es auf 1,6 Kinder pro Frau, während die weiblichen Mitglieder der heute boomenden Freikirchen wie ICF oder Vineyard nur gerade 0,8 Kinder gebären.

Matthias Herren, NZZ 25. Juli 2011

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