Masih Alinejad und der Kampf der iranischen Frauen
Für Aussenstehende ist der Hidschab ein Stück Stoff, aber für die iranische Frau bedeutet der obligatorische Hidschab viel mehr: Er ist ein Symbol der Unterwerfung, ein Symbol der Versklavung, ein klares Zeichen dafür, dass das Patriarchat gesiegt hat. Gegen all das wehren sich die iranischen Frauen. Eine von ihnen, Masih Alinejad, gewährt uns einen Einblick in ihre Welt.
Die aktuellen Proteste im Iran bedeuten den Todesstoss für die Islamische Republik. Inzwischen hat die ganze Welt die Welle von wütenden und blutigen Demonstrationen, Boykotten und wilden Streiks miterlebt, die sich nach der Ermordung von Mahsa Amini, einer 22-jährigen Frau, die wegen des falschen Tragens des Hidschabs verhaftet wurde, in mehr als 100 Städten ausgebreitet hat. Die Regierung schon früher größere Proteste erlebt, vor allem 2009, 2017 und 2019, aber diese Demonstrationen sind anders. Die Proteste waren nicht von kurzer Dauer und sie verkörpern die Wut, die iranische Frauen und junge Iraner gegenüber dem Regime empfinden.
Heute Samstag, 5. November, 14.30 Uhr, Bundesplatz Bern:
Demonstration gegen das Mullah-Regime
Vor vier Jahren sagte ich in einem vollbesetzten Hörsaal der Stanford University, dass die nächste Revolution im Iran von Frauen angeführt werden würde*. Damals teilten nur wenige im Publikum meine Zuversicht. Die Vorstellung, dass die Islamische Republik mit ihrem riesigen Militär, einer Vielzahl von Geheimdiensten und einem ausgeklügelten Propagandaapparat an Frauen fallen würde, erschien damals vielen lächerlich.
Die Wahrheit ist, dass ich wusste, dass eine Revolution kommen würde, aber ich wusste nicht, wann.
Ich begann meine Kampagne gegen die Hijab-Pflicht im Jahr 2014 an einem Frühlingstag, der voller Freude und Hoffnung war. Für Aussenstehende ist der Hidschab ein Stück Stoff, aber für die iranische Frau bedeutet der obligatorische Hidschab viel mehr: Er ist ein Symbol der Unterwerfung, ein Symbol der Versklavung, ein klares Zeichen dafür, dass das Patriarchat gesiegt hat. In der Islamischen Republik sind Frauen Eigentum, das vor den Blicken Dritter verborgen bleiben muss. Ohne ausdrückliche Erlaubnis ihrer Ehemänner oder Väter dürfen Frauen nicht arbeiten oder reisen. Sie dürfen auch keine Fussballstadien betreten. Bis vor kurzem konnten alleinstehende Frauen nicht ohne weiteres Hotelzimmer buchen oder Immobilien mieten.
Jahrelang schäumten die Frauen ob dieser Diskriminierungen. Doch europäische Politiker sprachen sich dafür aus, dass Frauen im Westen den Hidschab tragen sollten, unterstützten aber nicht die iranischen Frauen, die in ihrem Heimatland keinen Hidschab tragen wollten. Viele westliche Feministinnen wurden zu Komplizinnen, zu Helfershelferinnen derjenigen, die die Frauen im Iran unterdrückten. Die Fifa hat Wege gefunden, nicht gegen ein Regime vorzugehen, das eindeutig gegen mehrere ihrer eigenen Statuten verstösst.
Wenn Sie also von der Wut und Vehemenz der Proteste überrascht sind, dann haben Sie nicht aufgepasst.
Ein bekanntes Sprichwort besagt, dass Revolutionen ihre Kinder fressen, aber im Iran verschlingen die Enkelkinder die Revolution. Die iranischen Kleriker haben auf diese existenzielle Herausforderung mit brutaler Gewalt reagiert, aber Gewalt und Unterdrückung werden den Willen eines Volkes, das sich so sehr gegen seine Regierung auflehnt, nicht auslöschen.
Das Regime kann seine eigenen Gesetze nicht lockern, weil der obligatorische Hidschab zu seinem ideologischen Kern gehört. Wir befinden uns wahrhaftig in einem «Berliner-Mauer»-Moment. Fällt die Hidschab-Mauer, wird das gesamte Gebäude der Islamischen Republik einstürzen.
Mit Frauen an der Spitze wird Irans Wandel von einer Theokratie zu einer Demokratie bemerkenswert sein. Doch dies ist ein Marathon und kein Sprint. Es wird nicht über Nacht geschehen. Wir haben eine Botschaft an die westlichen Regierungen: Retten Sie die Islamische Republik nicht. Im Jahr 2009 hat sich die Obama-Regierung dafür entschieden, mit Ayatollah Ali Khamenei, dem obersten Führer des Iran, zu verhandeln, anstatt die pro-demokratische Grüne Bewegung zu unterstützen. Ich fordere die europäischen Staats- und Regierungschefs und die Regierung Biden auf, sich auf die richtige Seite der Geschichte zu stellen. Jetzt ist es mehr denn je an der Zeit, ernsthaft über eine Welt nach der Islamischen Republik nachzudenken.
Eine theokratische Welt zu besiegen, wäre ein entscheidender Wendepunkt.
Dieser Artikel wird auch in der Winter-Ausgabe unseres Magazins "frei denken." abgedruckt. Sie erscheint am 1. Dezember 2022.
Masih Alinejad und die Freidenker-Vereinigung
2017 verliehen wir den Freidenkerpreis an die Exil-Iranerin und ihre Organisation My Stealthy Freedom sowie an die kurdische Malerin und Journalistin Zehra Doğan, die damals in der Türkei in Haft war. Mehr dazu unter www.frei-denken.ch/freethinkeraward
Die Illustration stammt von der iranischen Künstlerin, die unter dem Pseudonym Ghalamfarsa auftritt. Wir danken herzlich, dass wir sie hier wiedergeben dürfen.