"Rushdie hat die Weltliteratur massgeblich geprägt mit seinen Werken"
Über 150 Menschen im Live-Stream und ein voller Saal vor Ort, der Salman-Rushdie-Leseabend stiess auf grosses Interesse. Das äusserst ernste Thema in kompetenter Runde zu besprechen war für alle Anwesenden wohl eine Bereicherung.
Als Regime-kritischer Russe kennt sich Mikhail Shishkin gut mit Morddrohungen aus. Er erhält sie regelmässig. In Russland ist es gemäss Shishkin trauriger Alltag, dass Schriftsteller ihr Schreiben mit dem Leben bezahlen. Die Höhe der Strafe zeigt aber die Wichtigkeit des Wortes. Umso bewusster ist er sich, wie unglaublich wichtig es ist, sich davon nicht einschüchtern zu lassen und weiterzukämpfen. Für den Schriftsteller ist das Schreiben sein Widerstand. Der Aufruf, Rushdie in der Öffentlichkeit zu lesen ist eine Aktion der Solidarität mit allen, die für die freie Meinungsäusserung kämpfen. Sie ist nicht für die Solidarität mit seinen Büchern, sondern mit all denjenigen, die für die Freiheit kämpfen – gegen Krieg, totalitäre Systeme. Gemäss der Fatwa gibt es keinen Ausweg, all diejenigen, die sich mit den Werken Rushdies auseinandersetzen, sie lesen und öffentlich darüber sprechen, sind zum Tode verurteilt. Wir dürfen nicht aufgeben und sollten uns zusammenschliessen und uns wehren gegen diese Mächte.
Eine Idee lebt so lange weiter, wie Menschen daran glauben.
Einen viel spielerischeren Zugang zu den Texten von Salman Rushdie wählte die Literaturwissenschafterin Nora Escherle. Sie verglich die Lektüre der Werke von Salman Rushdie mit der von Asterix und Obelix: Es wimmelt von Anspielungen, doch man kann die Geschichten auch geniessen, wenn man nicht jede davon versteht. Sie doktorierte zu Religion und Gewalt in Romanen von Autoren mit indischer und pakistanischer Abstammung und fasste am Leseabend die relevantesten Passagen und Verknüpfungen von Shalimar der Clown zusammen. Mit ihrer Wiedergabe des hoch komplexen Werks, in dem die Figuren nicht nur die Namen sondern auch ihre Identitäten wechseln, so konsistent und nachvollziehbar wie an diesem Abend bewies sie mit einer unglaublichen Leichtigkeit, dass sie wohl alle Anspielungen bis ins Detail analysiert und verstanden hat. Escherle erklärte nicht nur die Twists und interessanten Details der Geschichte, sondern erklärte sie im Kontext der Religionen, der Geschichte, der versteckten und offensichtlichen Anspielungen, die wohl die meisten LeserInnen ohne entsprechende Hinweise kaum verstanden haben.
Freie Meinungsäusserung muss immer wieder neu erarbeitet und verteidigt werden
Sanja Vaudano, die an der Uni Bern eine Dissertation zu Rushdies Werken schreibt, stieg mit einem sehr persönlichen Statement ein: Mitternachtskinder hat sie so viele Aspekte von sich und ihrem Leben hinterfragen lassen und ist ein Teil von ihr geworden. Rushdie erinnert uns sehr oft, dass postkoloniale Kulturen auch eine Verangenheit haben. Der Westen bilde sich oft ein, dass beispielsweise Indien vor seiner «Entdeckung» nicht existierte und Entwicklungsbedarf habe. Er versucht im Gegensatz zu anderen postkolonialen Autoren aber nicht, die Werte der westlichen und der östlichen Kulturen gegeneinander auszuspielen. Er zeigt uns, dass West und Ost einander brauchen, voneinander profitieren und voneinander fasziniert sind und einander bewundern. Rushdie kämpft für die Meinungsfreiheit. Doch wenn man Rushdie auf ein Konzept reduzieren müsste, wäre aus Vaudanos Sicht es die Hingabe zum Dialog. Er will nicht provozieren, sondern ist durchaus fasziniert von der Möglichkeit, die Religion bieten könnte. Er fördert aber das kritische Denken dem Islam gegenüber in seiner ganzen Vielfalt und lehnt Islamismus ab. Absolute Freiheit, Gedanken und Ideen zu teilen ist das, was für Rushdie im Mittelpunkt steht und immer wieder neu erarbeitet und verteidigt werden muss.
Rushdie ist ein Visionär
Hamed Abdel-Samad braucht Personenschutz, ein Grund für seine virtuelle Anwesenheit am Anlass. Doch auch er gibt nicht auf und es war ihm wichtig, an diesem Event dabei zu sein. Er erinnert, dass sich Religionskritik durch Rushdies Werk zieht. Wer seine Werke wirklich gründlich liest, wird feststellen, dass er ein wehementer Kritiker des Islam und seiner Geschichte ist. Deshalb hat Abdel-Samad das vierte Kapitel gewählt aus den Satanischen Versen. Es steht für den Krieg, der auch heute noch tobt zwischen den islamischen Welten. Die Fatwa über Rushdie kam nicht zufällig aus dem Iran, weil Chomeini Rushdie als Vorlage für seine Imam-Figur im Roman diente. Er wird dort als Scharlatan entlarvt, der den Westen benutzt, um seine eigene Infrastruktur aufzubauen, obwohl er den Westen hasst. Rushdie hat schon in den 1980er-Jahren vorausgesagt, dass der Islam Strukturen im Westen errichten und von da aus die Welt beeinflussen will. Wir haben es mit einer gefährlichen Ideologie zu tun. Er bemängelt, dass viele linke Intellektuellen sich zu Literaturkritikern erhoben, als die Fatwa über Rushdie verhängt wurde, anstatt ihn und seine Aussagen verstehen zu wollen. Keiner hat einen höheren Preis bezahlt für seine Meinungsfreiheit als Salman Rushdie.
Rushdie hat die Weltliteratur revolutioniert
Ursula Kluwick ist Privatdozentin an der Uni Bern und beschäftigt sich seit Jahren mit Rushdies Werk. Kluwick hat über magischen Realismus – der Erzählstil, der stark von Rushdies Werken geprägt ist – promoviert und hat für den Leseabend eine Passage aus seinem aktuellsten Roman, Quichotte, gewählt. Das Werk ist eine Adaption des berühmten Cervantes-Romans, die Rushdie in die USA der Gegenwart versetzt und auch mit der Geschichte von Pinocchio verwebt. Kluwick wählte die Szene in New York, als Sancho, eine der Hauptfiguren des Romans, durch den Central Park flaniert und die immer bizarrere und destruktivere Welt bemerkt. Kluwick betont, dass egal ob Rushdie der Blasphemie bezichtigt oder als mutiger Vertreter der Redefreiheit gefeiert werde, nicht vergessen werden dürfe, dass er einer der brilliantesten, zeitgenössischen englischsprachigen Autoren und der aktuellen Weltliteratur ist. Er werde viel zu oft auf die Fatwa reduziert und oft beschuldigt, dass er ohne den Skandal der durch die satanischen Verse ausgelöst wurde, nicht die Bekanntheit hätte, die er heute hat. Rushdie hatte aber schon vor den Satanischen Versen seinen Roman Mitternachtskinder veröffentlicht. Und dieser hat die Weltliteratur revolutioniert. Er hat auf literarischem Weg zu einer Verschiebung der Wahrnehmung der Englischen Sprache beigetragen, wenn nicht sogar diese begründet. Die Literaten der ehemaligen Peripherie geben der Sprache einen neuen Rhythmus und tragen zu einem richtigen Feuerwerk der Literatur bei.
Rushdie: Ich gebe meinen Figuren die Illusion des freien Willens
Andreas Kyriacou, Präsident der FVS und Initiator des Leseabends im Strauhof in Zürich führte durch den Abend zusammen mit Gabriela Leutwiler. Er kannte die Biografien der hochkarätigen Gäste und setzte mit seiner Moderation gekonnt Akzente in ihren Spezialgebieten. «Es ist sehr wichtig, dass die Satanischen Verse heute zu hören waren. Doch es muss mit aller Deutlichkeit gesagt werden, dass nicht der Text der die Gewalt ausgelöst hat, sondern die verquere Idee, mit Gewalt bestimmen zu wollen, was andere denken und sagen.» bringt Kyriacou die Problematik auf den Punkt. Er liess Rushdie selbst noch kurz sprechen, mit einen Ausschnitt aus dem Gespräch zu Quichotte während der Verleihung des Freidenkerpreises 2019, den die FVS dem grossen Schriftsteller vergab. Kyriacou fragt darin Salman Rushdie nach der Inspiration und seiner Beziehung zu seiner Lieblingsfigur Sancho: «Er weiss, dass er eigentlich erfunden ist, aber will unbedingt real sein. Die Frage, was Realität ist und wie sie funktioniert, wird für ihn zentral. Sancho entwickelt einen Sinn für Gott und weiss zum Glück nicht, dass ich das bin. Sonst würde er diese Idee sehr schnell verwerfen.». Ein sehr runder Abschluss des Abends der die liebevolle Beziehung zwischen Rushdie und den Charakteren in seinen Werken zeigte.
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