Jürg Halter: Weshalb ich nicht mehr an Gott glaube
Der Schriftsteller und Spoken Word Artist Jürg Halter bereichert unser Magazin "frei denken" seit der aktuellen Nummer mit einer Kolumne. Wir stellen sie nun online. Viel Vergnügen.
Von Jürg Halter
Nachdem ich als Jugendlicher zum ersten Mal etwas vom Holocaust gehört hatte, änderte sich für mich die Klangfarbe des Wortes «menschlich» – ohne dass ich hätte sagen können, weshalb. Nach und nach lernte ich mehr über den Zweiten Weltkrieg und mir wurde zunehmend klar, dass der Mensch schnell zum Unmenschen werden kann und dass «Verbrechen gegen die Menschlichkeit» immer von Menschen und nie von Ausserirdischen begannen werden. Allmählich begriff ich, dass ich in einer Welt von schwer durchschaubaren Konflikt- und Kriegsschauplätzen als ein durch Zufall Verschonter auf einer Insel des Friedens lebte. Dass es ein fauler, brüchiger Frieden auf Kosten anderer ist, allerdings auch. Ebenso, dass selbst bei uns schlimmste Gewalttaten stattfinden.
Je mehr ich über Kriege las oder mit Betroffenen darüber sprach, desto mehr wurde mir bewusst, weshalb ich nach meiner Kindheit langsam den Glauben an Gott verloren habe. Und da wusste ich noch wenig über die Gräuel, die im Schutz von Kirchen begannen werden.
Aber ich lehne es ab, mich als «Atheisten» oder «Agnostiker» zu bezeichnen – mag keine Labels. Ich beneide Menschen, die glauben können. Obwohl ich nicht aus einer besonders religiösen Familie stamme, betete ich als Kind abends zusammen mit meiner Mutter und meiner kleinen Schwester. Ich erinnere mich: Es war schön und tröstlich.
Heute, so habe ich den Eindruck, vermeidet man es, gerade in linken und liberalen Kreisen, wieder mehr denn je, angstfrei und kritisch über Glauben und Religion zu sprechen. Als wäre es das Obszönste geworden, für die Werte der Aufklärung, für die Trennung von Religion und Staat einzustehen. Gegenüber Menschen, die diese fundamental ablehnen. Wie einfach ist es doch, sich selber in einer zu nichts verpflichtenden Toleranz zu gefallen. Man muss ja nicht immer so genau hinsehen. Wie einfach ist es doch, Toleranz als uneingestandene Ignoranz zu leben und es sich als Offenheit schönzureden. Falls es tatsächlich einmal darum geht, die Werte der Gleichberechtigung in einer heiklen Situation zu verteidigen, etwa gegenüber religiöse Fundamentalisten: Besser verstummen oder sich diplomatisch geben. Aus Angst vorm Applaus von der sogenannt falschen Seite besser die Wahrheit verdrängen. Freiwillige Selbstzensur erleichtert das Leben. Oder noch schlimmer: Man lässt sich von intelligenten Fundamentalisten durch schöne, falsche Reden halbwissentlich täuschen – selbst staatliche Bildungsinstitutionen lassen sich teilweise von religiösen Fundamentalistinnen beraten. Am drastischsten zeigt sich dies oft, wenn es um den Islam geht. Würde man bei uns den Islam mit derselben Schärfe kritisieren wie das Christentum, hätte der fundamental gegen die Aufklärung, die Gleichberechtigung und gegen die Menschenrechte gerichtete Islamismus heute in Westeuropa nicht den grossen und weiterwachsenden Einfluss, den er hat.
Manchmal möchte ich laut ausrufen: «Hey Gott! Falls es dich doch gibt, weshalb stopfst du religiösen Fundamenalisten, die sich auf dich berufen, um in den sogenannt heiligen Krieg zu ziehen, nicht die Münder? Bist du etwa eine Geisel dieser Unmenschen? Verdammt! Und weshalb stimmen christliche Politiker, die auf die Bibel schwören, Kriegswaffenexporten zu? Weshalb gibt’s keine Reformation im Islam? Wie viele Millionen Menschen sind schon im Namen Gottes getötet worden? Weshalb tust du nichts dagegen? Was mussten Frauen, die du angeblich als ebenbürtige Menschen geschaffen hast, schon alles für Leid erdulden, legitimiert durch Bücher, die sich auf dich berufen? Weshalb hast du all das Leid nicht verhindert? Schaust du eigentlich jedes Mal, wenn jemand ‹Gott ist gross!› schreit und dann Menschen tötet, ungläubig auf? Du weisst es am besten: Es gibt keine Religion des Friedens. Gott, hallo? Ich kann dich nicht hören. Du lebst als wärst du seit jeher gestorben!»
Es bleibt zum Verzweifeln. An was soll ich glauben? An die Menschheit? Nein. An einzelne Menschen? Ja. Immer wieder. So wie an meinen kürzlich verstorbenen Freund Endo, der einmal, als wir bis tief in die Nacht über Gott und die Welt wetterten und sprachen, zu mir meinte: «Seit ich nicht mehr an Gott glaube, verzeihe ich ihm.»
Mehr zum Autor auf www.juerghalter.com