Organspende: Widerspruchslösung oder explizite Zustimmung?

Soll bei der Organspende wie bis anhin die explizite Zustimmung oder neu die Widerspruchslösung gelten? Am 15. Mai können Schweizerinnen und Schweizer darüber abstimmen. Wir verweisen als Beitrag zur Diskussion auf zwei gegenteilige Stellungnahmen, die wir im Juni 2018 für die Rubrik "Pro und Kontra" für unser Magazin frei denken eingeholt hatten.

Ein Initiativkomitee schlägt vor, bei der Organspende vom Ansatz der expliziten Zustimmung auf die Widerspruchslösung zu wechseln. Die Idee dahinter: Die Zahl der verfügbaren Spenderorgane soll erhöht werden, indem diejenigen, die im Falle ihres Ablebens ihre Organe nicht zum Spenden freigeben möchten, dies vorgängig deklarieren müssen. Das Parlament erarbeitete einen indirekten Gegenvorschlag, der das Kernanliegen der Initiative aufnahm. Gegen die Gesetzesänderung wurde das Referendum ergriffen. Deshalb kommt die Vorlage am 15. Mai an die Urne.

Für unser Magazin frei denken nahmen im Sommer 2018 Franz Immer, Präsident von Swisstransplant und der Medizinethiker Jean-Daniel Strub Stellung. Wir drucken die beiden Stellungnahmen als Beitrag zur Diskussion ab.

 

Pro

PD. DR. MED. FRANZ IMMER
Facharzt für Herzchirurgie FMH, CEO Swisstransplant

Im Oktober 2017 lancierte die Junge Wirtschaftskammer Riviera eine Volksinitiative, welche auf dem Gebiet der Organspende die Wiedereinführung der vermuteten Zustimmung verlangt. Dies bedeutet, dass bei jeder verstorbenen Person, die für eine Organspende infrage kommt, von deren Einverständnis für eine Spende ausgegangen werden kann – ausser, sie hat zeitlebens in einem Register eingetragen, dass sie nicht spenden möchte, oder die nächsten Angehörigen lehnen die Spende im Gespräch ab.

Die Modalität der vermuteten Zustimmung kommt heute in praktisch allen europäischen Ländern zur Anwendung.

In der Schweiz kannten 17 Kantone das System der vermuteten Zustimmung, welches oft auch als Widerspruchslösung bezeichnet wird. Das System wurde bei der Inkraftsetzung des neuen Transplantationsgesetzes 2007 vereinheitlicht. Seither gilt die explizite Zustimmung.

Swisstransplant befürwortet die Idee der Wiedereinführung der vermuteten Zustimmung: Wer nicht spenden will, kann mit einem Eintrag in ein Register Sicherheit und Klarheit schaffen. Dank dem verbindlichen Registereintrag besteht die Gewissheit, dass der eigene Körper unangetastet bleibt. Eine Sicherheit, die wir heute nicht haben. In über 60 Prozent kennen die Angehörigen den Wunsch des Verstorbenen nicht, wenn die Frage nach einer Spende gestellt wird. Stellvertretend gilt es dann, im Sinne des Verstorbenen zu entscheiden – ein meist sehr belastender Entscheid.

Fazit: Jeder soll verbindlich über seinen Körper entscheiden.

Franz Immer ist seit 2020 Präsident der European Organ Exchange Organisation FOEDUS und vertrat die Schweiz vom Januar 2020 bis Dezember 2021 in der Fachkommission "Organtransplantation" des Europarats.


 

Kontra

JEAN-DANIEL STRUB*
Selbstständiger Ethiker, Gründer und Mitgründer von ethix – Lab für Innovationsethik.

Mein Organspendeausweis hält fest, dass ich der Organentnahme im Todesfall zustimme. Den Entscheid dazu fällte ich aus freien Stücken – und zwar in zwei persönlichkeitsrechtlich zentralen Hinsichten: Erstens entspricht mein Entscheid einer informierten Einwilligung. Dieses zentrale ethische Prinzip schützt unsere Selbstbestimmung in medizinischen Belangen. Während die informierte Einwilligung ein aktives Zutun der entscheidenden Person voraussetzt, vermutet die Widerspruchslösung Zustimmung auch in jenem verbreiteten Fall radikaler Passivität, in dem man sich zur Sache gar nicht äussert. An die Stelle der Selbstbestimmung tritt damit ein eigentümlicher Paternalismus, der uns als Regelfall die Entscheidung abnimmt.

Zweitens habe ich mich zu einem frei gewählten Zeitpunkt mit der Organspende befasst. Mit der Widerspruchslösung dagegen würden wir uns gegenseitig zu einer frühzeitigen und wiederkehrenden Beschäftigung mit dieser höchst persönlichen Frage verpflichten. Denn nur eine Äusserungspflicht böte Gewähr, dass keine Organe entgegen dem Willen einer Person entnommen werden. Eine solche Pflicht steht aber in Widerspruch zur Freiheit, derartige Fragen auszublenden. Es mag klug sein, sich der eigenen Endlichkeit zu stellen; eine Pflicht ist es nicht.

Es ist richtig, darauf hinzuwirken, dass weniger Menschen versterben, weil sie auf ein Spenderorgan warten. Die Widerspruchslösung steht jedoch zu den Prinzipien der Freiheit und der Autonomie in Spannung und ihre Wirkung ist umstritten. Ihr sind andere Massnahmen vorzuziehen.

Jean-Daniel Strub leitete von 2008 bis 2012 die Geschäftsstelle der Nationalen Ethikkommission im Bereich Humanmedizin (NEK-CNE) und sass von 2008 bis 2020 für die SP im Gemeinderat der Stadt Zürich