Nicht glauben gibt auch Sinn

Welche Bedeutung hat die Frage nach dem Sinn des Lebens für religiöse und nichtreligiöse Menschen? Andreas Kyriacou hat sich darüber mit der Sinnforscherin Tatjana Schnell unterhalten.
Frau mit Kompass aufs Meer blickend
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Andreas Kyriacou: Du widmest dich der Sinnforschung. Was ist das genau?

Tatjana Schnell: Wir befragen Menschen, wie sie Sinn erleben, wie es ihnen damit geht, wenn sie keinen Sinn haben, wie Sinn überhaupt erfahren werden kann und aus welchen Quellen Menschen schöpfen, um diesen Sinn zu gewinnen. Uns interessiert, ob das in einem Zusammenhang mit der Art steht, wie Menschen miteinander umgehen, wie sie sich gesellschaftlich engagieren. Ein wichtiges Thema ist, wie das Erleben von Sinnhaftigkeit in Zusammenhang mit seelischer und körperlicher Gesundheit steht, auch in Bezug auf das Berufsleben. Es geht also stark um das Individuum, aber eben auch um das Umfeld, die Gesellschaft. Früher wurde Sinn primär mit Religion in Verbindung gebracht. 

«Früher wurde Sinn primär mit Religion in Verbindung gebracht.»

Und diese Form können wir noch heute beobachten. Es gibt Menschen, die sagen: «Der Sinn des Lebens entsteht für mich durch die Gewissheit, dass es Gott gibt und er einen Plan für mich hat.» Aber Menschen geben heutzutage auch ganz andere Antworten. Zum Beispiel, dass es ganz bestimmt keinen Sinn gibt, dass wir einfach aus Zufall hier sind. Wieder andere sagen, das Leben gebe einen evolutionären Sinn und wieder andere geben an, persönlich ganz gut einen Sinn zu finden, ohne das grosse Konzept des Sinns des Lebens zu bemühen.

Du bist Professorin an zwei Unis zugleich. In Innsbruck bist du Teil des Instituts für Psychologie. Die norwegische School of Theology, Religion and Society war mal eine Ausbildungsstätte für Geistliche. Unterscheidet sich da die Forschung?

Die Norweger beschäftigen sich mit diesen Fragen – im Gegensatz zu vielen Instituten im deutschsprachigen Raum, wo oft die Einschätzung vorherrscht, man könne oder solle solche Sinnfragen gar nicht erforschen. In Oslo bin ich bei den Sozialwissenschaften angegliedert. Für die Norweger ist es ganz klar, dass es eher existenzielle als religiöse Fragestellungen sind, und dass sie als säkulares Land dafür Forschung brauchen und etwas darüber wissen sollten,  wie es säkularen Menschen geht. Das norwegische Ministerium für Gesundheit und Pflege hat schon 2012/13 festgehalten, dass das Gesundheitssystem den existenziellen Bedürfnissen von Patienten und Patientinnen mehr Aufmerksamkeit schenken muss. Davon ist der deutschsprachige Raum noch weit entfernt. 

Wie unterscheiden sich nichtreligiöse und religiöse Menschen in Bezug auf Sinnfragen?

Es gibt gar nicht viele systematische eindeutige Unterschiede, aber es ist sehr wichtig, wie man hinschaut und wie man differenziert. In der Psychologie und der Soziologie hat man während vieler Jahrzehnte vor allem über religiöse Menschen geforscht. Inzwischen weiss man ganz gut, was die so glauben. In Umfragen wurde abgefragt, ob man Christ oder Jude oder Muslim etc. ist – oder «nichts». Und «nichts» ist ja nichts, was besonders interessant zu erforschen ist, also wusste man lange Zeit auch nichts über die, die «nichts» sind. Als wir anfingen, Säkularität zu erforschen, hatten wir also zu Beginn diese grosse Kategorie «nichts», was natürlich Quatsch ist. Also fingen wir an, genauer hinzusehen. Und wir sahen, dass beispielsweise innerhalb der Gruppe derjenigen, die sich dezidiert als Atheistin oder Atheist bezeichnen, sehr wohl Unterschiede existieren. Uns macht ja nicht primär das aus, woran wir nicht glauben, sondern das, woran wir glauben.

«Säkulare Personen haben insgesamt nicht mehr Sinnkrisen. Sie zeigen offenbar ein niedrigeres Bedürfnis, einen Sinn im Leben zu finden.»

Wir stellten fest, dass sich mindestens drei Gruppen unterscheiden liessen. Es gab einerseits Atheisten und Atheistinnen, die in Bezug auf die Sinndimensionen, die wir in unserer Forschung erheben, relativ breit aufgestellt waren. Die haben sich damit auseinandergesetzt, sich selbst kennenzulernen und so zu wachsen; aber sie sind auch über sich selbst hinausgegangen. Wir nennen das Selbsttranszendenz. Im diesseitigen Kontext kann dies beispielsweise mit Naturverbundenheit oder sozialem Engagement einhergehen. Denen ist auch wichtig, das Wir-Gefühl zu pflegen. Diese Gruppe hat von den dreien den höchsten Grad an Sinnerfüllung berichtet, sie kamen auf ähnliche Werte wie die Gesamtbevölkerung. Dann gab es Atheisten und Atheistinnen, denen es ausschliesslich um die Selbstverwirklichung ging. Bei ihnen war das Sinnerleben deutlich niedriger. Die dritte Gruppe hatte überhaupt keine Sinnquellen und die Befragten hatten grosse Sinnkrisen. Das waren wahrscheinlich Personen, die aus irgendeinem Grund vielleicht ihren Glauben verloren hatten und noch nicht wussten, wo sie sich verankern sollten und deshalb diese Instabilität erlebten. Wenn wir die drei Gruppen zusammennehmen, zeigen sie insgesamt eine niedrigere Sinnerfüllung als religiöse Personen. Dennoch hatten säkulare Personen insgesamt nicht mehr Sinnkrisen. Sie zeigen offenbar ein niedrigeres Bedürfnis, einen Sinn im Leben zu finden.

Innerhalb dieser religionsfreien Bevölkerung gibt es also beträchtliche Unterschiede. Wie sieht es bei denen aus, die sich einer Religion zugehörig fühlen? Gibt es da genauso viel innere Vielfalt?

Ja, es lassen sich unglaublich viele Unterschiede beobachten, deshalb existiert auch so viel Forschung dazu. Es gibt verschiedene Stile, zu glauben, verschiedene Gründe und Motivationen, zu glauben.

Bei den Religionen hat man quasi eine Vorlage, woran man eigentlich glauben müsste. Ist dies von Bedeutung? Religionsfreie können sich ja nicht auf ein klares Glaubenskonstrukt abstützen.

Es ist schon länger bekannt, dass vor allem in westlichen Ländern sehr viele Menschen nicht das glauben, was sie anhand des Credos ihrer Religion eigentlich glauben sollten. Sogar Pfarrer und Priester glauben einen Grossteil dessen nicht, was das Glaubensbekenntnis besagt. Und natürlich ist auch der Alltag bei vielen, die einer Glaubensgemeinschaft angehören, nicht wirklich religiös geprägt. Der Glaube wirkt sich kaum auf das persönliche Erleben oder Verhalten aus. Was wir gleichzeitig sehen, ist eine Entwicklung dahin, dass immer mehr Menschen sagen: «Ich kann mit diesen Vorgaben, was geglaubt werden soll, und mit den Institutionen und ihren Hierarchien eigentlich nichts mehr anfangen. Es hat für mich keine Echtheit mehr.» Deswegen gibt es vermehrt Menschen, die von sich sagen, sie seien zwar spirituell, aber nicht religiös. Viele fahren damit allerdings nicht besonders gut. Spiritualität ist offenbar eine starke Sinnquelle, aber Personen aus dieser Bevölkerungsgruppe berichten häufig über Ängste, teilweise auch über psychische Belastungen.

«Spiritualität ist offenbar eine starke Sinnquelle, aber Personen aus dieser Bevölkerungsgruppe berichten häufig über Ängste, teilweise auch über psychische Belastungen.»

Möglicherweise fehlt ihnen der Halt, den die starreren religiösen Angebote bieten. Eigentlich wird diese Vielfalt und Offenheit in unserer Gesellschaft ja sehr wertgeschätzt, trotzdem sehen wir, dass Menschen damit Probleme haben, wenn sie allein der Massstab dafür sind, was sie jetzt eigentlich glauben sollen. Das sind Fragen, die wir noch vertiefen wollen. Auch bei säkularen Menschen sehen wir spannende Unterschiede zwischen verschiedenen Selbstidentifikationen. In unserer aktuellen Studie konnten wir zeigen, dass Menschen, die von sich sagen, sie seien Atheisten oder Atheistinnen, übernatürlichen Annahmen eine klare Absage erteilen. Es zeigt sich eine starke Überzeugtheit und somit auch Sicherheit. Menschen, die sich eher als Agnostiker respektive Agnostikerinnen oder Humanist und Humanistinnen bezeichnen, fragen eher, was man überhaupt wissen kann; sie treffen deshalb nicht so starke Aussagen. Und wir finden bei ihnen häufiger auch solche, die sagen: «Vielleicht gibt es doch etwas nach dem Tod» oder «Ich bin mir nicht ganz so sicher, ob sich nur naturalistisch erklären lässt, was auf dieser Welt geschieht.»

Du hast zusammen mit anderen Forschenden auch untersucht, wie es Menschen jetzt in dieser Pandemiezeit geht, und was stabilisierende oder belastende Momente sind. Macht da die Weltanschauung einen Unterschied?

Wir sahen, dass Menschen, die sich als religiös verstehen, gegenüber nicht Gläubigen keinen Vorteil hatten, wenn es darum geht, wie gut sie durch die Pandemie kommen. Bei denjenigen, die sich als spirituell verstehen, zeigte sich auch hier, dass sie eher Probleme hatten, und zwar umso eher, je ausgeprägter diese spirituelle Dimension war. Ausgeprägte Spiritualität scheint eher verletzlich zu machen. Studien aus den USA zeigen, dass religiöse Menschen eher daran glauben, dass Corona nur eine Verschwörung ist. Dies konnten wir in unserer europäischen Studie nicht replizieren. Allerdings erleben Personen, die sich als spirituell bezeichnen, die pandemiebezogenen Massnahmen eher als unzulässig und übertrieben. 

«Wir sahen, dass Menschen, die sich als religiös verstehen, gegenüber nicht Gläubigen keinen Vorteil hatten, wenn es darum geht, wie gut sie durch die Pandemie kommen.»

Mein Doktorand Daniel Spitzenstätter hat in einer weiteren Studie untersucht, wie es Menschen während der Pandemie mit dem Erleben von Angst vor dem Tod geht. Wir bekommen aktuell ja deutlich mit, dass Menschen sterben, vermehrt auch im eigenen Umkreis. Was wir gefunden haben, bestätigt, was sich in früheren Forschungsergebnissen schon angedeutet hatte: Es ist nicht so sehr der Inhalt dessen, woran wir glauben, der hilft, mit Krisen oder der eigenen Sterblichkeit umzugehen, sondern wie gefestigt die eigene Weltanschauung ist. So berichteten überzeugte Atheisten und Atheistinnen ebenso wie überzeugte Religiöse weniger Todesangst und Todesvermeidung. Wer sich seiner Überzeugung sicher ist, kann offenbar auch kritische Situationen gut bewältigen, egal ob diese einen Transzendenzbezug beinhaltet oder nicht.

Lässt sich aus diesen Befunden ein Tipp ableiten, was für Krisenbewältigungen hilft?

Am relevantesten ist es, sich dessen bewusst zu sein, was man eigentlich glaubt, darüber nachgedacht zu haben und zu wissen, warum man die eigene Position vertritt. So lässt sich besser mit schmerzhaften Erlebnissen umgehen. Für die einen bedeutet dies, überzeugt zu sein, dass es einen Gott gibt, der es gut mit einem meint, oder dass es zumindest einen Plan für die Welt gibt. Für nichtreligiöse Personen ist es eher die Haltung, dass die Welt chaotisch ist und dass Dinge aus Zufall geschehen, die Welt aber dennoch ein guter Platz für mich ist und ich gerne lebe.


Dieses Interview erschien zuerst in der Frühjahrsausgabe unseres Magazins frei denken. Neugierig? Wir schicken gerne ein Gratis-Probeabo für zwei Nummern. Ein Jahresabo kostet CHF 35 für vier Ausgaben, für Personen mit Adresse im Ausland CHF 40.-


Zur Person

Prof. Dr. Tatjana Schnell ist seit Oktober 2005 an der Universität Innsbruck (Tirol) als Persönlichkeits- und differentielle Psychologin tätig, seit Oktober 2020 primär an der MF Specialised University in Oslo/ Norwegen (Professor of Psychology of Religion and Existential Psychology). Ihr zentraler Forschungsschwerpunkt ist die empirische Sinnforschung.


Buchtipp

Ein Fachbuch über aktuelle wissenschaftliche Erkenntnisse zum Thema «Lebenssinn»: Auf der Grundlage empirischer Forschungsergebnisse erfährt die Leserschaft, welche Dimensionen von Sinn es gibt und wie man sie für sich und auch andere, etwa in der Therapie-Praxis, entdecken kann. Tatjana Schnell, Psychologie des Lebenssinns, Juli 2020, 281 Seiten. Verlag Springer Berlin 978-3-662-61119-7.