Wer oder was hilft in der Krise?

Das Virus ist ein Generalist, es greift nicht nur unseren Körper an und zerstört ihn im Extremfall. Die Folgen der Infektion und ihrer Bekämpfung – Angst, soziale Distanzierung, Leid, Tod, wirtschaftliche und soziale Not – schlagen auch auf die Psyche der Menschen. Iris Schulz wollte von der Psychotherapeutin Kathrin Müller Mäder wissen, wie sie die Ausnahmesituation mit ihren Klientinnen und Klienten zu bewältigen versucht.

Interview: Iris Schulz

Iris Schulz: Wie sind Sie aktuell in Kontakt mit Ihren Klientinnen und Klienten?

Kathrin Müller Mäder: Die Termine finden ganz regulär statt – jetzt als Telefontermine. Ich mache damit gute Erfahrungen, am Telefon entsteht doch eine gewisse Intimität.

Welche Rolle spielt die derzeitige «aussergewöhnliche Lage»?

Die Gespräche beginnen oft mit dem Thema «Corona-Situation». Neu ist, dass die Klientinnen und Klienten häufig zuerst mich nach meinem Befinden fragen und erst dann auf ihre persönlichen Probleme zu sprechen kommen. Ihnen ist bewusst, dass wir uns alle in einer ähnlichen Situation befinden. Und tatsächlich sind wir ja alle mit einer völlig neuen Situation konfrontiert, auf die wir uns nicht vorbereiten konnten. Eine solch plötzliche Veränderung löst bei fast allen Menschen eine Instabilität, eine Krise aus, die – je nach Betroffenheit – unterschiedlich gross ist.

Die Betroffenheit von Covid-19 kann also ganz unterschiedlich stark sein?

Ja, die Angst vor Ansteckung und schwerer Erkrankung haben wir alle. Aber es kommen bei vielen Menschen zusätzliche Belastungen dazu. Drei Beispiele:

1. Eine Pflege-Fachfrau, die nun wegen Corona viele Überstunden leistet, ist zudem tagtäglich einem erhöhten Ansteckungsrisiko ausgesetzt.

2. Die Situation in der Wirtschaft kann eine Familie in grosse Unsicherheit und Existenzangst bringen: Kurzarbeit, Angst vor einer finanziellen Notlage oder gar drohender Stellenverlust belasten.

3. Ein alleinstehender Pensionär kann bedrückt sein, weil ihn Einsamkeit und das Gefühl der Sinnlosigkeit übermannen.

Die Corona-Situation kann auch Verstärker einer bereits bestehenden Schwäche in der Identität sein, eine Rückzugstendenz beispielsweise kann nun zur sozialen Isolation werden. Ich möchte bei den Empfehlungen deshalb auch zwischen stark und weniger stark Betroffenen unterscheiden.

Wie evaluieren Sie Art und Grad der Betroffenheit?

Grundsätzlich werden in einem Gespräch die aktuelle Situation, das Befinden und die Belastungen erfragt. Eine

zusätzliche Möglichkeit ist die Orientierung am Modell der «5 Säulen der Identität» von Hilarion Petzold (siehe Grafik). Dieses Modell ist ein evidenzbasiertes Instrument zur Erfassung der aktuellen Stabilität und des Selbstwertgefühls. In der Therapie kann ich mir anhand einer Zeichnung der Säulen relativ schnell einen Überblick über die aktuelle Lebenssituation und deren kritische Bereiche machen. Dafür werden die einzelnen Säulen auf ein A3-Blatt gemalt. In die Säule 1 (Leiblichkeit, Gesundheit, Körper) nehme ich die körperliche und die psychische Gesundheit, zudem die Sexualität und das «Gefühl der Attraktivität» im Sinne des stimmigen Aussehens auf. In die Säule 5 (Werte, Sinn) gehören auch die Weltanschauung und überdauernde politische Einstellungen.

Abbildung 5 Säulen der Identität

Sind bei einem Menschen mehr als zwei Säulen im Sinne von tragenden Identitätspfeilern in Veränderung beziehungsweise geschwächt, ist davon auszugehen, dass sich dieser Mensch im Ungleichgewicht fühlt, sich in einer Krise befindet.

Ein Beispiel: Eine Kellnerin, die seit einem Vierteljahr arbeitslos ist, erlebt auch ihre Leistung nicht mehr gewürdigt. Zudem hat sie nun trotz Arbeitslosengeld ein geringeres Einkommen, was ihre finanzielle Sicherheit reduziert. Ihr soziales Netz, welches sie am Arbeitsplatz aufgebaut hatte, ging durch die Kündigung zu einem grossen Teil verloren. Aufgrund dieser Belastungen hat sie nun auch noch Schlafstörungen, die ihr arg zu schaffen machen. Damit ist sie in vier von fünf Säulen der Identität beeinträchtigt und befindet sich in einer kritischen Lebensphase.

Stichwort Resilienz – was wirkt der Instabilität entgegen?

Jeder hat unterschiedliche Fähigkeiten und Erfahrungen, mit den Emotionen der Angst und der Sorge umzugehen. Ein Mensch, der schon verschiedene kritische Lebensphasen gut überstanden hat, ist meist resilienter gegen eine schwere Krise in einer neuen Belastungssituation. Er kann sich schneller anpassen und auffangen, weil er schon Strategien der Selbsthilfe kennt. Er glaubt an seine Selbstwirksamkeit und hat die Fähigkeit, seine Ressourcen zu aktivieren.

Es ist also langfristig stärkend, sich in Krisenzeiten auf die auftauchenden Fragen und Emotionen einzulassen und dann Strategien zu entwickeln, mit der Verunsicherung umzugehen. Verdrängen oder zum Beispiel Betäuben mit Suchtmitteln bringt keinen Gewinn für später.

Was hilft konkret, eigene Ressourcen zu aktivieren?

Wichtig ist, den eigenen Zustand bewusst wahrzunehmen. Bin ich bedrückt und kraftlos? Oder angespannt aus Angst vor Ansteckung oder Stellenverlust? Anhand des 5-Säulen-Modells kann man übrigens auch gut selbst eruieren, ob man in einer Krise steckt.

Es hilft, sich an die eigenen Ressourcen und an frühere Krisen zu erinnern: Wie habe ich diese Zeit damals angepackt? Mit wem konnte ich gut sprechen? Welche Tätigkeiten haben mir gut getan?

Dazu einige Beispiele: In der Corona-Situation mit der Quarantäne kann es gut tun, eine feste Tagesstruktur zu haben. Wann arbeite ich? Will ich daneben ein Buch lesen? Täglich einen Spaziergang machen? Mich trotz Homeoffice schön anziehen? Mir täglich etwas Gutes tun? Wo hole ich mir welche Informationen – über die Krankheit und die Situation? Will ich meinen Medienkonsum beschränken? Wie erkenne ich Fake News?

Gibt es Empfehlungen zur Reduktion von Sorge und Angst?

Forschungsergebnisse zum Thema «Angstreduktion bei einem erhöhten Angstpegel» (erkennbar an Schlafstörungen, Enge im Brustbereich, Schreckhaftigkeit, Magenschmerzen, Kurzatmigkeit etc.) belegen, dass die folgenden Massnahmen helfen:

Ablenkung: Sich nicht auf die unangenehmen Gefühle im Körper konzentrieren, sondern sich ablenken. Ob mit einem «Heftli», einer Soap oder etwas Anspruchsvollem ist dabei nebensächlich!

Körperliche Entspannung: Über entspannte Muskeln geben wir dem Gehirn das Signal, dass keine Gefahr besteht. Wenn wir uns mittels Autogenem Training, Yoga oder durch Laufen entspannen, sinkt auch der Angstpegel. Bewusstes, tiefes Atmen weitet die Brust und wirkt so der Angst entgegen.

«Katastrophen-Gedanken» unterbrechen beziehungsweise in realistische umwandeln: Damit meine ich nicht ein simples «es geht mir jeden Tag besser und besser», sondern eine gezielte Korrektur der ängstlichen Gedanken in Richtung Realität. Ein Beispiel: Wenn ich denke, dass ich sicher zu denen gehöre, die angesteckt werden und daran sterben, hilft es, die realen Statistiken zu lesen und eine realistische Wahrscheinlichkeit in meine Einstellung zu übernehmen. Hier kann es auch helfen, sich mit einem Menschen auszutauschen, der diese adäquate Sichtweise bereits verinnerlicht hat. Oder man sucht sich professionelle Hilfe in einer Therapie.

Wichtig zu wissen ist, dass Angst zwar sehr unangenehm sein kann, aber nicht «tödlich» ist. Sogar für die Panikattacke ist der Körper gerüstet und nach etwa einer Stunde flaut der unter Adrenalin entstandene, unangenehme Zustand wieder ab.

Kann man die aktuelle Situation auch für Positives nutzen?

Ja, natürlich. Vor allem die leichter Betroffenen können in diesen Quarantäne-Wochen die «Krise auch als Chance» nutzen, beispielsweise für neue, kreative Projekte oder lange vernachlässigte Dinge. Die Liste ist unbegrenzt. Nur ein Beispiel: Sie könnten ihre Patientenverfügung überprüfen und sich mit der Frage des Sterbens und des Todes befassen.

Helfen auch Rituale gegen Angst?

Ja, eindeutig. Den religiösen Menschen hilft zum Beispiel das Beten und die Vorstellung des Beschützt-Seins von Gott, die Angst zu reduzieren.

Freidenkende greifen eher auf regelmässige soziale Kontakte via Medien und weltliche Ressourcen (täglich Musik machen, entspannen etc.) zurück. Sie müssen eigene Beruhigungsstrategien entwickeln, wie sie mit ihren Ängsten umgehen.

Was fördert die Anpassungsfähigkeit?

Die Haltung «nicht vermeiden und abwarten, sondern wagen und anpacken» stärkt die Erfahrung, selbstwirksam zu sein. Man empfindet Stolz auf die eigene Leistung und dies stärkt das Selbstvertrauen. Eigenverantwortung und -leistung stehen dann anstelle der Delegation des persönlichen Schicksals an eine übergeordnete Macht. In diesem Sinne ist zu vermuten, dass religionsferne Menschen häufiger die Erfahrung der Selbstwirksamkeit machen und selbstbewusster sind als religiöse Menschen. Sie nehmen ihr Leben (und ihr Sterben) in die eigene Hand und lernen, sich in Krisen aufgrund eigener Erfahrungen anzupassen.

Foto Kathrin Müller Mäder

Kathrin Müller Mäder ist Fachpsychologin für Psychotherapie FSP in Zürich und Mitglied der Freidenkenden Schweiz. Sie arbeitet seit über 30 Jahren in der psychotherapeutischen Grundversorgung der Bevölkerung, am häufigsten mit Menschen, die an Depressionen, Ängsten, Essstörungen oder Persönlichkeitsstörungen leiden.
kathrinmueller.ch