Themenabend: Annäherung an Karl Popper und den kritisch-rationalen Dialog

Am 9. Februar 2016 hielt Michael Ockenfeld unseren Themenabend als «Annäherung an Karl Popper, den Eigenschaften kritisch rationalen Denkens und der Haltung im kritisch rationalen Dialog». Zum ersten Mal haben wir den Anlass auf Video aufgezeichnet.

Im folgenden Michaels Zusammenfassung:

Alle Zitate entstammen dem Buch «Alle Menschen sind Philosophen» von Karl Popper

Die Hauptprinzipien

  • Fehlbarkeit: Vielleicht habe ich Unrecht und du Recht, wir können auch beide Unrecht haben, wenn ich meine Position verteidige dann nicht, um Recht zu behalten, sondern um zu sehen, wo meine Aussage, These oder Meinung Schwächen hat. Du darfst und sollst mich in diesem Sinne kritisieren und herausfordern, wenn du mir das gleiche Recht einräumst.Vernunft: Versuchen wir möglichst unpersönlich unsere Gründe für oder wider einer oder unserer eigenen Theorie abzuwägen, stellen wir den Erkenntnisgewinn vor die Interessen der eigenen Person.
  • Annäherung an die Wahrheit: Wir können der Wahrheit näherkommen, zu einem besseren Verständnis, auch wenn wir uns vielleicht nicht einig werden.

Diese Prinzipien sind ethische und zugleich erkenntnistheoretische Prinzipien. Sie implizieren Duldsamkeit, Toleranz. Die potenzielle Einheit und Gleichberechtigung sind Voraussetzung unserer Bereitschaft, zu diskutieren. Wir können von einer solchen Diskussion viel lernen, auch wenn sie nicht zu einer Einigung führt. Das Gespräch kann uns lehren, eigene Schwächen unserer Position zu verstehen.

Weitere Merkmale und Haltungen des kritisch rationalen Dialoges

Altes Ideal

  • Wahrheit und Sicherheit besitzen
  • Dazu logische Beweise anführen
  • Idee der Autorität, der sicheren Quelle
  • Die Theorie / These muss so gebaut sein, dass sie gegen Kritik immun ist, dass sie nicht angefochten werden kann
  • Diese Autorität muss geschützt werden
  • Fehler sind absolut unerlaubt
  • Fehler sind Katastrophen
  • Deshalb besteht die Tendenz zu Vertuschung, oder zur dogmatischen Gerinnung
  • Imperativ: sei eine Autorität, wisse alles auf deinem Gebiet

Neues Ideal (rationale Kritik)

  • Unser objektives Wissen ist Vermutung und vorläufig
  • Wissen geht über das hinaus, was ein einzelner Mensch leisten kann
  • Fehler meiden ja, aber Fehler treten immer irgendwie auf
  • Auch Intuition ist fehleranfällig
  • Wir sollten bewusst nach Fehlern suchen
  • Wir müssen Fehler neu bewerten, unsere Einstellung zu ihnen ändern
  • Wir müssen bewusst aus Fehlern lernen, sie analysieren
  • Aus Fehlern lernen heisst sie annehmen
  • Wir brauchen andere, die uns unsere Fehler aufzeigen (und umgekehrt)
  • Selbstkritik gehört auch dazu
  • Rationale Kritik muss immer spezifisch sein, sie muss begründen, warum eine Annahme ungültig, falsch oder ungenau ist
  • In diesem Sinn muss die Kritik unpersönlich sein (sowohl Kritiker als auch der Kritisierte)

Beispiele zum alten Ideal

In wissenschaftlichen Disziplinen, der Religion, in Interessengruppen, der Politik und auch im Persönlichen, wenn es z.B. um Meinungsverhalten geht:

  • In allen Zivilisationen gibt es Schulen, meist gegründet / initiiert von einer geistig starken oder machtvollen Persönlichkeit (Religion, politische Idee, Wissenschaft, Philosophie, Musik, …).
  • Diese Schulen machen es sich zur Aufgabe, die Lehre rein und unverfälscht weiterzugeben. Die Tradition soll unversehrt an die nächste Generation vermittelt werden.
  • Neue Ideen werden nicht zugelassen, da sie als Spaltung, Irrlehre oder Häresie aufgefasst werden.
  • In der Regel behauptet der Häretiker, seine Ansicht sei die eigentlich vom Gründer gemeinte. Der Neuerer gesteht sich selbst nicht ein, dass er eine Neuerung einführen will. Er bezieht sich selbst auf den Meister oder Stifter, um seine These mit Autorität untermauern zu können. So wird er vielleicht gehört, kommt in eine entsprechende Position und kann die Neuerung etablieren. Meist scheitert die Erneuerung innerhalb der bestehenden Schule oder Tradition.
  • Veränderungen von Lehrmeinungen verlaufen deshalb oft im Verborgenen, im inoffiziellen Raum, in Subgruppen, sofern das gelingt, oder es wird eine neue Schule gegründet, oder der Neuerer verlässt die alte Institution.
  • In einer solchen Schule kann es selbstverständlich keine Diskussion geben. Es gibt nur Auseinandersetzungen mit Abtrünnigen oder anderen Schulen. Statt Diskurs steht Rivalität.
  • Der Gründer selbst wird nicht kritisch untersucht.

Die Wertschätzung der kritischen Diskussion hat auch eine menschliche Seite. Selbstverständlich weiss der Rationalist sehr wohl, dass sich die menschlichen Beziehungen nicht in einer kritischen Diskussion erschöpfen. Er weiss im Gegenteil, dass eine rationale, kritische Diskussion zu den Seltenheiten unseres Lebens gehört.

Ich bitte Sie, meine Formulierungen als Vorschläge zu betrachten. Sie sollen zeigen, dass man, auch im ethischen Gebiet, diskutierbare und verbesserbare Vorschläge machen kann.

Beobachtungen, wo der Umgang mit Fehlern, Irrtümern heute konstruktiver verläuft, wo Fehler genutzt werden …

(Aber wohl nicht nur wegen des Kritischen Rationalismus …?)

  • Fehleranalyse bei Flugunglücken / ZIRS – fall bei Fehlern in Betrieben, z.B. Krankenhaus
  • In wissenschaftlichen Abhandlungen z.B Biographien (Beck) werden Zeitumstände, Irrtümer, psychologische Profile, geschichtliche Zusammenhänge etc. berücksichtigt und untersucht. Starke Persönlichkeiten (Jesus, Hume, Kant, …) werden aus unterschiedlichen Blickwinkeln gesehen und kommentiert, sie sind kritisierbar, Stärken und Schwächen werden sichtbar. Die Ergebnisse werden nicht als endgültig betrachtet, beigefügt sind deshalb Kommentare wie: «… zum jetzigen Zeitpunkt der Forschung …», «… bei Vergleich aller verfügbaren Quellen lässt sich derzeit sagen, dass …», «… es werden in der Forschung zum gegenwärtigen Zeitpunkt 3 Hauptthesen ersichtlich …», «… der Haupteinwand gegen diese und jene Annahme war …», «… unerwähnt in allen Fällen war …»
  • Komplexität, Widersprüche, Gegenthesen, Hierarchieprofile, Interessen, etc. werden alle erwähnt, und beschrieben. Forschung dient der Forschung und keinen einzelnen Interessengruppen, einer Idee, einem Weltbild, einer Erwartung, einer Hoffnung, …
  • Das Bewusstsein für komplexe Situationen führt zu mehr Interdisziplinärer Zusammenarbeit ( z.B. Medizin, Sozialarbeit, Forschung, …)

Ergänzende Aussagen Karl Poppers zu Philosophie

… wie ich die Philosophie nicht sehe …

  1. Aufgabe der Philosophie ist nicht das Auflösen von Missverständnissen
  2. Ich halte Philosophie nicht für eine Galaxie von Kunstwerken oder von klugen / ungewöhnlichen Weltbeschreibungen oder verblüffenden / originellen Weltbildern
  3. Ich betrachte Philosophie nicht als eine Geschichte von intellektuellen Bauwerken, an denen alle möglichen Ideen ausprobiert werden und in denen Wahrheit vielleicht als ein Nebenprodukt zum Vorschein kommt
  4. Ich halte Philosophie nicht für einen Versuch zur Analyse oder Explikation von Begriffen, Worten oder Sprachen
  5. Philosophie ist kein Mittel zu zeigen, wie gescheit man ist
  6. Philosophie ist keine intellektuelle Therapie (wie Wittgenstein), oder eine Tätigkeit, mit der man Menschen aus ihrer philosophischen Verwirrung befreit …
  7. Philosophie ist nicht das Bemühen, sich präziser oder exakter auszudrücken. Präzision u Exaktheit sind keine intellektuellen Werte an sich, und wir sollten uns auch nicht genauer ausdrücken, als es die Situation erfordert
  8. Daher halte ich Philosophie nicht für das Bemühen, Grundlagen oder begriffliche Rahmen für das Lösen von Problemen zu liefern
  9. Philosophie ist auch nicht Ausdruck eines Zeitgeistes. Das ist eine hegelsche Idee, die der Kritik nicht standhält

Kritikpunkte an Popper, am Kritischen Rationalismus

Querbeet, diverse Philosophen, Autoren. Quelle Internetrecherche zur Eingabe: Kritik am Kritischen Rationalismus, diverse Veröffentlichungen, Arbeiten.

Geraffte Aussagen / Argumente — ob nun berechtigt oder nicht:

  • Entscheidungsspielraum zu weit: Für konkreten Forschungsbetrieb, aber auch für politische Prozesse ist kritischer Rationalismus deshalb oft nicht geeignet.
  • Bietet zwar heuristische Prinzipien (z.B. Versuch u Irrtum), aber keine konkrete Anleitung.
  • Tendenz des ist kritischen Rationalismus zum Gehabe eines Monopolanspruchs in Sachen Kritikfähigkeit, Kritikkompetenz verkommt zur Selbstbezüglichkeit.
  • Subjektiv geringe Bereitschaft zur Versachlichung (apologetische, polemische Tendenzen, Falsifikation quasi als Waffe für den eigenen Narzismus).
  • Objektiv erschwerte Umsetzung, weil von den Protagonisten (Popper, Albert etc.) nicht genug vorbereitet wurde, um ist kritischen Rationalismus zu integrieren. Man verkennt darüber hinaus die auch in der Forschung real existierenden.
  • Abhängigkeiten und Machtverhältnisse (Klientel, Geldgeber, Kampf um Forschungsgelder, Industrie, …). Darauf hat ist kritischer Rationalismus keine konsequenten Antworten gegeben oder praktikable Angebote gemacht.
  • Antideutsche Tendenzen – die Philosophie betreffend – ausser Kant (Deutscher Idealismus u Marx kommen bei Popper insgesamt nicht gut weg).
  • Auch Falsifikation kann irren, z.B. wenn Randbedingungen nicht stimmen. Naiver Falsifikationismus. Wer oder was schützt vor Falsifikationsirrtümern?
  • Kritischer Rationalismus ist jetzt gut 80 Jahre alt und müsste für diese Zeit einmal selbst Bilanz ziehen, seine Theorie auf Wirksamkeit und eigene Fehler hin überprüfen. Tut er aber nicht. Wagt der KR es mit der Falsifikation bei sich selbst nicht?
  • Popper hat in den 80ern den Neoliberalismus von Thatcher und Reagan nicht bekämpft sondern gestützt und so mit den Weg bereitet für eine schlechte Entwicklung des westlichen Kapitalismus.