Philosophische Wanderung: Tu, was du willst

Auf unserem philosophischen Spaziergang 2015 präsentierte uns Silvia Zollinger das Buch «Ética para Amador», deutsch «Tu, was du willst. Ethik für die Erwachsenen von morgen» von Fernando Savater. Es folgt ihre Zusammenfassung.

Einleitung

Savater ist 1947 geboren, ist Professor für Ethik an der Uni Bilbao. Er schreibt für El País, hat Voltaire, Diderot und Bataille übersetzt und mehr als 30 eigene Bücher heraus gegeben. Über Nietzsche, den Anarchismus, die Malerei etc. Ein grosses Anliegen ist ihm auch, die Jugend für die Ethik zu gewinnen. Mit diesem Büchlein wollte er seinem Sohn erklären, was Ethik ist und was für einen Nutzen sie im Leben hat. Es heisst «Tu, was du willst» und befasst sich mit der Kunst des guten Lebens und den Umgang mit Freiheit. Dass er sich an einen Jungen richtet, hat den Vorteil, dass es nicht in einem Philosophenjargon geschrieben ist, sondern gut leserlich und unterhaltsam.

Wir sind alle in einem Alter, in welchem man sich nicht zum ersten Mal mit solchen Fragen auseinander setzt. Aber ich denke, dass es nicht schadet, wenn wir uns immer wieder mal fragen, was wir eigentlich genau tun wollen und ob wir das was wir machen auch wirklich wollen.

Philosophische Wanderung

1. Station

I Woher die Ethik kommt

Es gibt Dinge, die man aus Interesse lernt oder weil sie einem nützen, auf die man aber getrost verzichten kann, falls man nicht neugierig ist oder die entsprechenden Kenntnisse nicht braucht. Aber es gibt auch Dinge, die man wissen muss, da unser Leben davon abhängt. (Sprung vom Balkon, Schlägerei mit Nachbarn, der mich ärgert). Man kann auf viele Arten leben, aber einige Arten lassen uns nicht leben. Es gibt also unerlässliches Wissen, nämlich dass bestimmte Sachen nützlich sind und andere nicht. Diejenigen, die uns gut bekommen nennen wir gut und andere bekommen uns schlecht. Die nennen wir schlecht. Zwischen gut und schlecht unterscheiden zu können wollen wir alle können – aus Eigeninteresse. Es gibt z.B. gute und schlechte Dinge für die Gesundheit. Dabei gibt es Dinge, die vordergründig gut sind, aber auf die Dauer schädlich. (Alkohol, Drogen, Fett, Zucker) Im Bereich der Beziehungen ist es genau so: Lügen ist allgemein etwas Schlechtes, da wir das Vertrauen der anderen verlieren. Manche (Not)lüge stellt sich aber als gut heraus. Einer der immer die Wahrheit sagt, macht sich überall unbeliebt. Das Schlechte stellt sich also manchmal als das Gute heraus und umgekehrt. Es gibt eben viele verschiedene Kriterien für das, was wir tun müssen. Wir können nicht für alle Lagen gültig sagen was gut und was schlecht ist. Was das Leben betrifft, gehen die Meinungen sehr weit auseinander. Wer ein risikoreiches Leben will, entscheidet sich ev. Formel-1-Fahrer zu werden. Wer ein ruhiges, sicheres Leben vorzieht, sucht das Abenteuer besser im Kino. Wir sind nur alle der Meinung, dass wir nicht einer Meinung sind. Aber in einem Punkt stimmen wir überein: Dass das, was unser Leben ist oder werden soll zumindest z.T. das Ergebnis dessen ist, was jeder will.

Das unterscheidet uns von anderen Tieren: Die Termiten-Soldaten kämpfen und sterben, wenn ihr Volk von einem anderen Volk angegriffen wird, weil sie nicht anders können. Sie können daran nichts ändern. Winkelried oder Hektor (der beste Krieger von Troja) hingegen kämpfen um ihre Pflicht zu erfüllen, nämlich die Verteidigung von Familie und Stadt/Land. Winkelried und Hektor betrachten wir als Helden, die Termiten nicht. Sie sind eben nicht auf die gleiche Weise mutig. Die Termiten kämpfen, weil sie müssen ohne etwas daran ändern zu können. Hektor und Winkelried kämpfen, weil sie es wollen. Sie könnten sagen, sie seien krank, könnten flüchten, könnten sich weigern Helden zu sein. Sie sind frei ja oder nein zu sagen und deshalb bewundern wir ihren Mut. Zwar sind wir auch kulturell programmiert durch Sprache, Erziehung, Traditionen. Hektor z.B. hat aufgrund seiner Programmierung die Notwendigkeit erkannt, seine Familie und seine Stadt Troja zu schützen. Er wurde von klein auf dazu erzogen, ein guter Krieger zu sein und man sagte ihm, Feigheit sei etwas Abscheuliches. Trotzdem. Hektor hätte sagen können“ zum Teufel mit all dem“. Es wäre schwierig gewesen aber nicht unmöglich, wogegen ein eine Termite, die Waben herstellt völlig ausgeschlossen ist. Wir können letztendlich immer sagen ich will oder ich will nicht, ja oder nein. Es gibt für uns nie nur eine Möglichkeit zu handeln. Wir sind natürlich nicht frei, auszuwählen, was uns passiert, sondern frei auf die eine oder andere Art darauf zu reagieren. Zudem gibt es viele Kräfte, die unsere Freiheit einschränken. (Krankheit, Tyrannen, unsere eigenen Fähigkeiten. Ich hätte z.B. nie je Matheprofessorin werden können). Viele Leute sagen wir seien nicht frei: Das Fernsehen wäscht mein Gehirn, ich habe kein Geld, um zu machen, was ich will, Terroristen bedrohen mich… Diese Leute sind in Wirklichkeit zufrieden zu wissen, dass sie nicht frei sind. So sind sie nicht schuld, d.h. nicht verantwortlich für das, was ihnen passiert. (Neue Hirnforschung spricht uns die Freiheit ab und schreibt unsere Entscheidungen unserer Biographie und unserem Erbgut zu. Dies wird von anderen Forschern auch schon wieder bestritten. Tatsache ist, dass wir immer die Wahl haben, wir müssen uns stets entscheiden.) Und im Grunde genommen glaubt niemand, nicht frei zu sein. Wir können also wählen, wie wir leben wollen und uns entscheiden, für das, was uns gut oder schlecht scheint. Deshalb können wir uns auch irren, – was z.B. den Bienen oder den Termiten nicht passieren kann. Es ist also vernünftig, darauf zu achten und zu reflektieren über das, was wir tun und uns ein Lebenswissen anzueignen. Diese Kunst des Lebens nennt man Ethik. (Zitate S. 30)

II Befehle, Gewohnheiten und Launen

Tun wir aber immer, was wir wollen? Nicht ganz. Manchmal zwingen uns die Umstände, zwischen 2 Möglichkeiten zu wählen, die wir uns nicht ausgesucht haben und die wir ev. beide nicht gut finden können. Oder wir müssen wählen, obwohl wir lieber nicht wählen würden. Es gibt verschiedene Beweggründe, etwas zu tun, die wir manchmal nicht als unseren freien Willen empfinden: Die einen sind Befehle (der Chef, die Ehefrau, die Gesetze), die anderen sind Gewohnheiten und die dritten sind Launen. Nicht jede Art Motivation hat in jeder Situation das gleiche Gewicht. Befehle und Gewohnheiten oder Normen kommen eher von aussen, Launen dagegen von innen; sie treten spontan auf. Wenn wir Launen folgen, fühlen wir uns freier als wenn wir Befehle ausführen. In schwierigen Situationen können wir nicht den Gewohnheiten oder Konventionen folgen; die sind für das Alltägliche. Wenn es ernst wird, muss ich mir etwas einfallen lassen, muss überlegen, wie ich reagieren soll. In einer Notsituation scheint es auch nicht angebracht, seinen Launen zu folgen. Zudem vergehen einem vernünftigen Menschen im Ernstfall fast alle Launen, man hat nur noch den Wunsch, die richtige Entscheidung zu treffen. Und da wird’s spannend. Mehr darüber im nächsten Kapitel. (Zitate S. 43)

2. Station

III Tu was du willst

Die Entscheidung etwas zu tun oder zu lassen hat mit der Frage der Freiheit zu tun. Freiheit heisst entscheiden, aber auch – wichtig – sich darüber Rechenschaft zu geben, wie man sich entscheidet. Freiheit steht in krassem Gegensatz zu «sich treiben lassen». Du musst darüber nachdenken, «warum tue ich das» (Ist der Grund ein Befehl, eine Gewohnheit, eine Laune?). Die zweite Frage muss lauten: «warum gehorche ich, folge ich dem Befehl» oder «warum passe ich mich der Umgebung/Gewohnheit an?» Bei den Launen lautet die Frage eher, ob sie auch tatsächlich ratsam ist oder ob sie sich nicht bald gegen mich richtet. (Bei Rot über die Kreuzung fahren ist ev. einmal lustig, mehrheitlich aber gefährlich.) Kurz: Eine Handlung ist niemals gut, nur weil sie einem Befehl, einer Gewohnheit oder einer Laune folgt. Um zu wissen, ob sie gut ist, muss ich das, was ich tue, genauer untersuchen, darüber nachdenken. Niemand kann für mich frei sein, mich frei sprechen davon, für mich selbst zu wählen. Also müssen wir Befehle, Gewohnheiten und Launen hinterfragen. Wenn wir lernen wollen unsere Freiheit gut zu gebrauchen, dann ist es besser, sich von ihnen zu lösen. Wir müssen uns an etwas anderem orientieren. Das Kriterium darf auch nicht die Erwartung von Strafe oder Belohnung sein, die andere verteilen. Wir orientieren uns an unserer Moral oder eben unserer Ethik. Wobei Moral die als gültig anerkannten Verhaltensweisen und Normen bedeutet und Ethik die Frage danach, warum wir diese als gültig anerkennen. Ethik stellt Fragen, Moral gibt Antworten, die wir nicht immer akzeptieren können. Darum ist Moral häufig verpönt, da es ev. Antworten sind, die wir nicht teilen.

Nun, gut und schlecht sind bei einem Fussballer oder einem Motorrad leicht zu definieren. Die Meinungen aber, ob ein menschliches Verhalten gut oder schlecht ist, gehen sehr weit auseinander. Für Berufe und Dinge gelten klare Normen, aber nicht, um ein guter Mensch zu sein. Es gibt da nicht nur eine zu befolgende Vorschrift. Es gibt viele Arten, gut zu sein und es ist nicht leicht, von aussen zu bestimmen, wer das Angemessene tut und wer nicht. Zudem kann die gute Absicht katastrophale Folgen haben, die Schlechte möglicherweise auch Gutes bewirken. Es gibt also keine Anleitung dazu, wie wir gut leben. Die Antwort heisst «tu, was du willst». (Zitate S. 55)

IV Mach dir ein schönes Leben

Frage also niemanden, was du mit deinem Leben anfangen sollst. Frage dich selber. Wenn du dem Befehle «tu, was du willst nicht folgen willst» (da es ein Befehl ist) und lieber anderen gehorchst, weil es einfacher ist, dann verzichtest du nicht darauf zu wählen, sondern du wählst, nicht selbst zu wählen. (Oder wie Sartre sagt: «Wir sind zur Freiheit verdammt»). Tu, was du willst ist etwas völlig anderes, als «tu, wozu du zuerst Lust hast». Durch die Lust kann man nicht nur etwas gewinnen, sondern verliert sehr oft. Nehmen wir das Beispiel von Esau und dem Linsengericht. Kennen alle noch die Geschichte: Er hat Hunger und denkt nur an das, worauf er jetzt gleich Lust hat. Aber waren die Linsen das, was Esau wirklich wollte? Und was wollen wir? Oft widersprüchliche Dinge: Vielleicht viel Geld haben aber ohne andere Menschen auszubeuten, vielleicht viel wissen, ohne dauernd lernen zu müssen, vielleicht weit reisen, ohne der Umwelt zu schaden usw. Zusammengefasst können wir sagen: «Wir wollen ein schönes Leben haben». Ethik ist der Versuch, heraus zu finden, wie wir besser leben. Wir wollen ein schönes Leben, und zwar ein schönes menschliches Leben (und nicht das einer Raupe). Mensch sein besteht in erster Linie darin, mit anderen Menschen in Beziehung zustehen. Das, was uns erst zu wirklichen Menschen macht, zu dem, was wir sein wollen, ist ein wechselseitiger Prozess. Wir brauchen andere Menschen, denn wir sind nicht nur biologische natürliche Wesen, sondern auch kulturelle. Es gibt keine menschliche Natur ohne kulturelles Lernen. Der Mensch kommt nicht ganz und gar als Mensch zur Welt, er muss es werden. Die Grundlage dazu ist die Sprache. Die Sprache ist eine kulturelle Schöpfung, die wir von anderen Menschen erlernen und erben. Mit jemandem reden und ihm zuhören bedeutet daher, ihn/sie wie ein Mensch zu behandeln. (Das ist natürlich nur ein erster Schritt. Es gibt viele Formen, uns als Menschen anzuerkennen). Wir alle wollen wie Menschen behandelt werden. Deshalb kann «sich ein schönes Leben machen» letztlich nur heissen: anderen ein schönes Leben bereiten. Damit die anderen mich zu einem Menschen machen können, muss ich sie ebenfalls zu Menschen machen. Wenn wir einen Haufen Geld haben könnten, einen Palast, die besten Klamotten, das teuerste Essen, die modernste Elektronik, aber niemals wieder Menschen sähen, – wären wir dann glücklich? Wie lange könnten wir so leben ohne verrückt zu werden? Ist es nicht die grösste Dummheit, Sachen zu wollen auf Kosten der Beziehungen zu Menschen? Vom Geld erhofft man sich, Dinge kaufen zu können, die uns bessere Beziehungen zu anderen ermöglichen. Sehr wenige Dinge behalten ihre Vorzüge in der Einsamkeit. Das schöne Leben ist ein Leben unter Menschen. Als abschreckendes Beispiel dient Citizen Kane. (W.R. Hearst, Verleger und Zeitungsmagnat, Film von Orson Wells). Der Multimillionär hat in seinem Palast eine Sammlung aller schönen und kostbaren Dinge der Welt. Er benutzt alle in seiner Umgebung für seine Zwecke. Am Ende des Lebens geht er durch seine Räume, die voller Spiegel sind und ihm das Bild eines Einsamen zurückwerfen. Als er stirbt, murmelt er das Wort «Rosebud». Das ist der Name eines Schlittens mit dem er als Kind spielte, als er noch in einer Umgebung voller Zuneigung lebte. Trotz all seiner Reichtümer und seiner Macht über die andern blieb ihm nichts Besseres als jene Kindheitserinnerung. Der Schlitten, das Symbol menschlicher Beziehung war in Wirklichkeit das, was Kane wollte. Dieser war «Das schöne Leben», das er geopfert hatte um all die Sachen zu erhalten und die ihm nichts nützten. (Zitate S. 67)

V Wach auf!

Es ist ziemlich klar, dass wir alle das gute Leben wollen, aber es ist nicht klar, worin dieses gute Leben denn nun besteht. Sowohl Kane, als auch Esau taten, was sie wollten, aber haben sie das gute Leben erreicht? Das schöne Leben wollen ist nicht so einfach, wie Linsen, oder Geld oder einen iPod zu wollen. Es richtet sich nicht auf einen einzigen Aspekt der Wirklichkeit (z.B. das Materielle), sondern dahinter steckt eine ganzheitliche Sichtweise. Es ist zwar nichts Schlechtes, Linsen zu wollen, wenn man Hunger hat, aber der Mensch lebt nicht von Linsen allein. Das Leben ist kompliziert. Der Tod ist einfacher: Vor dem Tod haben nur wenige Sachen Bedeutung, es wird einfach, zu entscheiden, was du willst. Z.B. medizinische Hilfe, die Luft, um nochmals die Lungen zu füllen. Das Leben hingegen ist komplizierter. Wenn wir jeder Komplikation aus dem Weg gehen und die grosse Einfachheit suchen, glaube nicht, dass wir besser leben. Auch Kane vereinfachte das Problem, indem er sich auf den materiellen Teil des Lebens beschränkte. Es ist nichts dagegen einzuwenden, Geld zu wollen. Es gefällt uns allen nicht, ohne einen Rappen dazustehen. Aber der Wunsch, immer mehr haben zu wollen scheint auch nicht ganz normal zu sein. Denn die Sachen, die wir besitzen, besitzen auch uns. Kanes fundamentaler Irrtum war, Menschen wie Sachen zu behandeln. Er meinte, darin bestehe die Macht über sie. Die grösste Komplexität des Lebens ist genau die, dass Menschen keine Sachen sind. Kane ging nach Belieben um mit seinen Freunden, seinen Geliebten, seinen Angestellten und hat sich damit selbst wehgetan, das schöne Leben verpatzt. Nur wenn ich Menschen wie Menschen behandle und nicht wie Gegenstände, mache ich es möglich, dass sie mir zurückgeben, was eine Person der anderen geben kann: nämlich Freundschaft, Wertschätzung, Respekt, Zuneigung, Liebe. Das ist wichtig zu wissen, weil es bedeutet, dass wir Menschen uns gegenseitig zu Menschen heran bilden. O.k., manchmal kann man die anderen wie Menschen behandeln und wird trotzdem von ihnen nur getreten, verraten und ausgenutzt. Aber zumindest eine Person muss uns respektieren: wir uns selber.
Wir wollen die Welt der Menschen möglich machen, die Welt, in der sich Menschen gegenseitig wie Menschen behandeln. Die einzige, in der man wirklich leben kann. Sicher haben viele Leute Kane beneidet. Dachten, der habe es gut. Na und? Wollen wir lieber beneidet werden oder uns selber zufrieden stellen? Denken wir an uns selber: das schöne Leben, das wir wollen, ist es das von Kane?

Wir wissen jetzt bereits, dass ein schönes Leben zwar auf Dinge angewiesen ist (wir brauchen Linsen die viel Eisen enthalten), aber auch, dass es Menschen noch weniger entbehren kann. Sie helfen uns, Mensch zu sein. Das sind wir zwar eh schon, aber man kann eben Mensch-Sache oder Mensch-Mensch sein. Es gibt Leute, die in Sachen Geschäfte oder der Politik klug sind, gleichzeitig in der Frage, wie man gut lebt aber grosse Deppen. Die Fähigkeit, über das, was man tut zu reflektieren ist wesentlich und der Versuch, den Sinn dieses schönen Lebens, das wir haben wollen für uns möglichst genau zu definieren. Die wichtigste Voraussetzung dazu ist es, entschlossen zu sein, nicht auf irgendeine Art leben zu wollen, davon überzeugt zu sein, dass nicht alles egal ist, auch wenn wir früher oder später sterben müssen. Wir dürfen uns nicht vom Tod oder von der Kürze des Lebens entmutigen lassen. Unser Leben ist voller Erinnerungen und Hoffnungen, – wir können nicht leben, wie wenn es kein Gestern und kein Morgen gäbe, (wie Esau) sonst erreichen wir nicht, was wir wirklich wollen. Auch wenn das Leben kurz ist, scheint die Frage ob es sich lohnt zu leben oder ob es ein Leben nach dem Tod gibt unwichtig. Alles was für uns Wert besitzt, kommt vom Leben und somit muss die Ethik vom Leben ausgehen, es stärken und bereichern. Wie kann man auf die bestmögliche Art leben? scheint also die wichtigere Frage zu sein. Die wahre Schwierigkeit besteht nicht darin, sich der gängigen Moral zu unterwerfen oder zu widersetzen, sondern im Versuch, zu verstehen, warum uns bestimmte Verhaltensweisen gefallen und andere nicht und was unser Leben schön machen kann. Wir dürfen uns nicht damit zufrieden geben, für gut gehalten zu werden, vor anderen gut zu sein. Um für sich eine Antwort zu finden muss man nicht nur gut aufpassen oder wie ein Roboter gehorchen, sondern auch mit anderen Menschen reden, ihnen Recht geben und ihnen zuhören. Aber die Mühe, sich zu entscheiden, muss jede/r in Einsamkeit auf sich nehmen. Nochmals: niemand kann für dich frei sein. (Zitate S. 78)

3. Station

Oder: VI Die Grille taucht auf

Die einzige Verpflichtung, die wir im Leben haben ist, nicht schwachsinnig, – moralisch schwachsinnig -, zu sein. Schwachsinnig ist:

  • Wer glaubt, er wolle nichts; wer sagt, ihm sei alles egal.
  • Wer glaubt, er wolle alles; das erstbeste, das man ihm präsentiert und das Gegenteil davon: weggehen und bleiben, Knoblauch essen und zärtliche Küsse geben, alles auf einmal.
  • Wer nicht weiss, was er will und sich auch nicht die Mühe macht, es heraus zu finden. Was er tut, wird von der Mehrheitsmeinung der Leute in seiner Umgebung diktiert. Er ist Konformist oder aus Prinzip Rebell, d.h. ohne Grund.
  • Wer weiss, was er will und dass er will und mehr oder weniger warum er es will, es aber nur schwach oder ohne Nachdruck will und somit die Entscheide auf morgen vertagt.
  • Wer mit Macht und Gewalt will, wie ein Wilder, sich aber über die Realität täuscht und schliesslich das schöne Leben mit dem verwechselt, das ihn fertig macht.

Wir haben fast alle Anzeichen von Schwachsinn: Achtung er lauert uns auf!

Das Gegenteil von moralisch schwachsinnig zu sein ist es, ein Gewissen zu haben (Titel: die Grille von Pinocchio) Das Gewissen ist allerdings nicht etwas, das vom Himmel fällt und sicher haben bestimmte Personen von klein auf ein besseres ethisches «Gehör» als andere. Aber dieses Gehör, und dieser «gute Geschmack» können sich auch in der Praxis festigen und entwickeln. Man benötigt einige angeborene Eigenschaften, um ein Gewissen zu haben, genauso wie für die Liebe oder die Musik. Sicher haben die Lebensbedingungen, in die jemand hinein geboren wird einen Einfluss. Aber viel hängt von der Aufmerksamkeit und der Anstrengung jedes Einzelnen ab. Die Merkmale des Gewissens sind:

  • Wissen, dass nicht alles egal ist, weil wir wirklich leben wollen und ausserdem gut, menschlich leben wollen.
  • Aufpassen, ob das, was wir tun, mit dem übereinstimmt, was wir wirklich wollen – oder nicht.
  • Lernen, dass es bestimmte Dinge gibt, die wir spontan ablehnen. (z.B. dass es einen ekelt zu lügen, wie es einen normalerweise ekelt in die Suppenschüssel zu pinkeln, aus der wir uns nächstens bedienen wollen.)
  • Keine Ausreden suchen, die verbergen, dass wir frei und daher vernünftigerweise für die Folgen unserer Handlungen verantwortlich sind.

Das Gewissen ist dem Schwachsinn vorzuziehen, weil es uns das schöne Leben leben lässt, also nur aus ureigenem Interesse oder anders gesagt, aus Egoismus. Im Allgemeinen hat das Wort Egoismus einen negativen Beigeschmack. Man nennt jemanden einen Egoisten, der nur an sich selber denkt und sich nicht um andere kümmert, der sogar so weit geht, sie zu verletzen, wenn er damit Vorteil erlangen kann. Aber sind diese sogenannten Egoisten so egoistisch, wie es scheint? Wer ist der echte Egoist? D.h. wer kann egoistisch sein ohne schwachsinnig zu sein? Derjenige, der für sich selbst das Beste will. Und was ist das Beste? Das, was wir das schöne Leben genannt haben. Wir dürfen nur den einen konsequenten Egoisten nennen, der wirklich weiss, was für ihn zum guten Leben passt und der sich bemüht, es zu erreichen. Wer gegen sein Gewissen handelt, hat früher oder später Gewissensbisse. Achtung: man kann bedauern, bereuen, schlecht gehandelt zu haben, auch ohne zu glauben, dass es einen rächenden Gott gibt und auch wenn man sicher ist, dass nichts und niemand gegen einen Repressalien ergreifen wird. Wir erkennen dann, dass wir mit diesen Handlungen das, was wir eigentlich sein wollen, boykottieren. Die Gewissensbisse kommen aus unserer Freiheit. Wenn wir nicht frei wären, könnten wir nicht schuldig und auch nicht stolz sein, wir wären nicht verantwortlich. Also ist das, was wir Reue nennen, nicht mehr als die Unzufriedenheit mit uns selber, wenn wir die Freiheit schlecht genutzt haben. Verantwortlich sein, heisst sich wirklich frei zu wissen für das Gute und das Schlechte: sich die Konsequenzen seiner Handlungen aufzuladen, das Schlechte zu meiden und vom Guten so viel wie möglich zu profitieren. Der Verantwortliche ist immer bereit, für seine Handlungen einzustehen: «Ja, ich bin es gewesen.» Verantwortung heisst, zu wissen, dass jede Handlung mich konstruiert, mich bildet, definiert, erfindet. Wenn ich wähle, was ich tun will, transformiere ich mich allmählich. Alle meine Entscheidungen hinterlassen in mir eine Spur, bevor sie diese in der Umwelt hinterlassen. Wenn ich gut handle, fällt es mir jedes Mal schwerer, schlecht zu handeln (und umgekehrt, leider).

Und als Abschluss dieses Kapitels zitiere ich aus dem Buch «Psychoanalyse und Ethik» von Erich Fromm, auf welches auch hier wieder verwiesen wird: «Was du nicht willst, das man dir tut, das füg auch keinem anderen zu, lautet eines der grundlegenden Prinzipien der Ethik. Aber mit gleicher Berechtigung kann man sagen: Was du anderen antust, das tust du auch dir selber an.» (Zitate S. 94/95)

Weiterführendes:

Was bedeutet es Menschen wie Menschen zu behandeln? Dann geht es um Menschlichkeit, Gerechtigkeit, Zivilisation, Menschenrechte und die Freude am Leben und um Genuss. Zum Schluss schreibt er noch über das Verhältnis von Politik und Ethik und darauf, dass es politische Forderungen gibt, auf die kein Mensch verzichten kann.