Lehrmittel "Blickpunkt Religion und Kultur" «religionisiert» die Welt

NZZ zum neuen Unterstufen-Lehrmittel «Blickpunkt Religion und Kultur» (Lehrmittelverlag Zürich, 2012).

Das von Religionspädagogen und der Pädagogischen Hochschule Zürich erarbeitete Buch ist mit seinem interreligiösen und bekenntnisunabhängigen Ansatz eines der ersten seiner Art im deutschsprachigen Raum. Es soll im neuen obligatorischen Fach Religionskunde eingesetzt werden, das in einigen Kantonen den konfessionell christlichen Unterricht ersetzt. Das Lehrmittel will den Kindern eine Übersetzungshilfe bieten, damit sie die verschiedenen Religionen kennen und besser verstehen lernen.

Beim ersten Durchblättern glaubt man, das Lehrmittel erfülle seinen Zweck. Es stellt die grossen Weltreligionen gleichberechtigt vor, indem es Kinder verschiedenen Glaubens sich über religiöse Symbole und Rituale ihres Alltags austauschen lässt. Die Christin lernt den Islam, der Jude den Buddhismus, der Muslim den Hinduismus kennen und so weiter. Fast wie von selbst klappt die interreligiöse Verständigung, die offensichtlich das Vorbild für die Kommunikation in der Klasse bilden soll - die Schulkinder als interreligiöse Übersetzer.

Doch auf den zweiten Blick wirkt das Buch stereotyp. «Andrea» ist Christin, «Elias» Jude, «Yusuf» Muslim. Konfessionslose oder nichtreligiös erzogene Kinder kommen nicht vor; ihre Sicht auf die Welt und den Glauben wird nicht berücksichtigt. Ein konfessionsloses Kind, das der hiesigen Mehrheitskultur angehört, wird diesen Ausschluss auf die leichte Schulter nehmen; wenn es nicht gläubiger Christ ist, so ist es doch Schweizer oder besitzt die deutsche Muttersprache. Schwieriger ist die Situation für das türkische oder jüdische Kind, das primär Mitglied einer Minderheitskultur ist; als religionsfernes Individuum könnte es sich doppelt ausgeschlossen fühlen.

Schwierig ist die Situation aber auch für das gläubige muslimische Kind. Es wird vom Lehrmittel, ob es nun will oder nicht, zum Experten in Sachen «Islam» befördert: «Aischa weiss, was die Münze und die Schere bedeuten», steht über der Abbildung eines Zweifrankenstücks und einer Schere. Was nun, wenn das Kind von der Lehrerin oder den Mitschülern auf dieses Ritual angesprochen wird, es aber nicht kennt? Dann ist es kein richtiger Muslim.

Das Lehrmittel respektiert die Kinder nicht in ihrer religiös-weltanschaulichen Diversität, sondern presst sie in konfessionelle Schablonen - wobei dem Christentum am meisten Platz eingeräumt wird; über die nichtchristlichen Religionen erfährt man nur Oberflächliches. Das Buch suggeriert, dass alle Religionen irgendwie identisch mit dem Christentum seien und alle gesellschaftlichen Phänomene sich letztlich religiös herleiten liessen - es «religionisiert» die Welt. Konfligierende Deutungen zwischen den Religionen oder gar innerhalb einer Religion sind ebenso tabu wie zwischenreligiöse Konflikte oder solche zwischen Religiösen und Nichtreligiösen. Von einer informativen und realitätsnahen Beschäftigung mit der Rolle der Religionen in der heutigen Welt kann keine Rede sein. Was als Übersetzungshilfe gedacht ist, wird Missverständnissen Vorschub leisten. http://www.nzz.ch/wissen/bildung/die-tuecken-der-vielsprachigkeit-1.17818330

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