Gute Argumente?

Jüdische Stimmen hätten nicht die guten Argumente gebracht in der Beschneidungsdebatte. Es hätte die Reflexion gefehlt, sowohl über die Beschneidung als Phänomen der jüdischen Geschichte wie auch über die Argumente der Gegner. Darin mag man dem Autor ohne Weiteres beipflichten, wenn man die Auftritte der Vertreter der jüdischen Gemeinschaft Deutschlands in den letzten Wochen am Fernsehen mitverfolgt hat. Bodenheimer will diese Reflexion in seinem Essay leisten. Im Abriss der Geschichte nennt der Autor zwar Beispiele für die Flexibilität jüdischer Gesetze. Das Festhalten an der Beschneidung beschreibt er dann aber als bewussten Akt der Differenz: Sie sei die Selbstkennzeichnung eines Kollektivs. Dieser Rückzug auf das Eigene stehe aber für Pluralität und friedliche Koexistenz, weil die eigene, defensive Religion niemandem aufgedrängt werde. Und zudem sei sie auf den Mann beschränkt – für Juden ein kategorieller Unterschied: Unversehrtheit sei das Merkmal der Frau. Zuzustimmen ist ihm, wenn er die Rede vom «christlich-jüdischen Erbe» als Formel der Konservativen zur Abgrenzung gegen den Islam bezeichnet, und zweifellos relevant sind Fragen, die er stellt: Was ist die Beziehung zwischen Gesellschaft und Individuum? Was bedeutet Religionsfreiheit? Wie viel Parallelkultur verträgt eine Gesellschaft? Gibt es ein Gewohnheitsrecht für überkommene kulturelle Bräuche? Aber Bodenheimer ist der Meinung, die christliche Prägung der Debatte sei stärker als es die Beschneidungsgegner selbst wahrnehmen würden, die Ablehnung der Beschneidung diene der Selbstbestätigung der Mehrheit, wie schon seit dem frühen Christentum. «Haut ab» soll bedeuten: Juden empfinden die Debatte selbst bereits als Ablehnung, die Christen andererseits würden das Judentum auf die Beschneidung reduzieren. Hier dürfte der Autor allerdings schräg liegen. Der Konflikt besteht nicht mehr zwischen christlicher Mehrheitsgesellschaft und Minderheiten, sondern als Auseinandersetzung in einer säkularen Gesellschaft, in der sich eine Mehrheit von Religionen distanziert. Da ging nicht plötzlich die Toleranz der Christen verloren – die Kirchen haben sich ja umgehend solidarisiert –, sondern es kam die bestehende Distanz der parallelen Kulturen ans Licht, die mangels Kontakt kaum wahrgenommen worden ist. Auch der Schreibenden ist durch die Lektüre des Essays die Fremdheit bewusster geworden, und sie vermutet, dass das auch vielen Juden so ergehen dürfte. Ein möglicher Anfang für eine Debatte? Für Bodenheimer scheint sie bereits gelaufen zu sein. Das Büchlein scheint er vor allem für Juden geschrieben zu haben – ihnen will er Argumente liefern: Rückzugsargumente?

Reta Caspar

Alfred Bodenheimer Haut ab! Die Juden in der Beschneidungsdebatte Verlag Wallstein, 2012, ISBN 978-3835312449

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