"Über Toleranz und Firlefanz"

Sagen Sie mal, Frank A. Meyer, hing in Ihrem Schulzimmer ein Kreuz an der Wand? Natürlich nicht. Biel, meine Heimatstadt, ist protestantisch geprägt. Und politisch eher links, also säkular.
Manche Eltern wollen nicht, dass ihre Kinder im Unterricht auf ein Kruzifix blicken müssen – können Sie die verstehen? Durchaus. Das Schulzimmer ist ein öffentlicher Raum. Dort haben ­religiöse Symbole nichts zu suchen. Die Schule muss ideologisch neutral sein. Schon protestantische Eltern könnten an diesem doch sehr katholischen Abbild Anstoss nehmen.

Wäre das nicht intolerant? Ihre Frage stellt die Sache auf den Kopf. Intolerant ist, wer seinem Nächsten ein religiöses Bekenntnis auf die Nase bindet oder ihn sogar dazu bekehren will. Toleranz hingegen erweist sich darin, den Andersgläubigen oder Andersdenkenden nicht mit dem eigenen Glauben zu behelligen. Darauf basiert der Religionsfriede in der Schweiz.

Und was halten Sie vom Schul-Kruzifix in katholischen Kantonen – in der Innerschweiz oder im Wallis beispielsweise? Meine Meinung ist in jedem Fall dieselbe, doch die Realität ist dort ­anders: Die Katholiken verfügen in diesen Kantonen über gesellschaftliche und politische Macht. Also setzen sie auch das Kruzifix in der Schule durch, was wiederum der notorischen Intoleranz der katholischen Kirche entspricht. Da sind wir Protestanten tatsächlich toleranter.

Gehen Sie überhaupt in die Kirche, Frank A. Meyer? Ich ging. In den letzten zwei Jahren meiner Schulzeit, als 14-Jähriger, besuchte ich die Mittwochspredigt, die stets am frühen Abend stattfand. Aber schon da habe ich aufbegehrt. Beim Gebet senkten alle ­demütig den Kopf. Ich nicht. Ich wollte dem lieben Gott irgendwo dort oben im Kirchenschiff in die Augen blicken. Ich war ein sehr selbstbewusster Gläubiger.

Gläubig – sind Sie das heute auch noch? Ich kann schlecht beantworten, ob ich glaube oder nicht. Die Frage ist für mich unwichtig geworden. Es gibt Momente, vor allem glückliche, in denen mich ein frommes Gefühl von Dankbarkeit überkommt. Ich richte dann meine Gedanken oder ein paar Worte an den lieben Gott, wie ihn mir meine Mutter beim Abendgebet nahegelegt hat.

Aber von der Religion haben Sie sich abgewandt? Ich misstraue ihr, vor allem misstraue ich der Kirche. Das freie Denken, ja die Freiheit überhaupt, die Selbstverantwortung des Einzelnen, die offene Gesellschaft – all das musste der Kirche, insbesondere der katholischen Kirche, in oft schweren Kämpfen abgerungen werden. Heute beobachte ich mit grosser Skepsis den Versuch der katholischen Klerisei und ihres fatalfrömmlerischen deutschen Papstes, gesellschaftliche und politische Macht zurückzugewinnen. Man verbündet sich dabei sogar mit dem Islam. Religionsfreiheit soll wieder höher ­stehen als die Freiheit des Einzelnen. Es ist an der Zeit, die steuerfinanzierte Kirche in die staatlichen Schranken zu weisen. Der Staat ist religiös neutral.

Verletzen denn Kruzifixe diese Neutralität? In der Schule schon, in der Kirche natürlich nicht. Ohnehin hat, wer nach Jesus lebt, symbolischen Firlefanz nicht nötig.

http://www.blick.ch/news/fam/ueber-toleranz-und-firlefanz-160636