Kt. TI: Pilotversuch mit Obligatorium für "Geschichte der Religionen"

Die Einführung des neuen Tessiner Schulgesetzes am 1. Februar 1990 war ein Meilenstein auf dem schwierigen Weg zur Erreichung der Trennung von Staat und Kirche im Tessin, da nach Art 23 jene SchülerInnen, die an keinem Religionsunterricht teilnehmen wollen, sich nicht mehr abmelden, sondern jene, die an einem Religionsunterricht teilnehmen wollen, sich anmelden müssen. Eine historische Änderung, die jetzt mit dem einem Pilotversuch, zur grossen Freude der Devoten, wieder gekippt werden soll.

Religiöses Picknick

Laut der Legende stand am Anfang eine Schulreise einer Klasse nach Mailand, wo das "Letzte Abendmahl" von Leonardo da Vinci besucht wurde. Eine zufällige Begleiterin der Schulklasse, (Mitglied der “Associazione per la scuola pubblica del Cantone e dei Comuni in Ticino) fragte die SchülerInnen, was das Werk darstelle. Wahrscheinlich einen Picknick, antwortete ein Schüler. Die gute Dame war so entsetzt, dass sie umgehend die Ausarbeitung der Publikation „L’approccio al fenomeno religioso nella scuola pubblica“ in Gang setzte.

Zwei parlamentarische Initiativen

Darauf folgte am 2. Dezember 2002 die parlamentarische Initiative von Laura Sadis, damals Nationalrätin und heute Regierungsrätin des Kantons Tessin, Leiterin des Finanzdepartements. Sie ist Mitglied des Partito Liberale Radicale Ticinese PLRT , die liberale Partei, welche die Thesen von “L’approccio al fenomeno religioso nella scuola pubblica“ fast wörtlich übernahm. Vorausgegangen war noch eine gegnerische Initiative von Paolo Dedini vom 25. März 2002, der die Abschaffung des Art. 23, und die Einführung eines Faches Religionsgeschichte, Ethik und Philosophie anstrebte.

Spezialkommission

Anschliessend wurde am 5. Oktober 2004 vom Staatsrat eine Kommission eingesetzt, die Kommission Ghiringhelli, mit der Aufgabe, zur Initiative Stellung zu nehmen und Vorschläge auszuarbeiten. Die Sektion Tessin der FVS war darin mit einem Mitglied vertreten. Am 5. Februar 2007 wurde der Endbericht veröffentlicht und zur Vernehmlassung ausgeschrieben. Die FVS publizierte einen Minderheitsbericht. Bericht der Vertreter der FVS-Sektion Tessin

Bericht der Vertreter der FVS-Sektion Tessin

Details der Vorgeschichte

http://www.frei-denken.ch/de/2007/02/religion-an-der-volksschule-des-kantons-tessin/

Vernehmlassung

Die Positionen hatten sich durch die Vernehmlassung offenbar sich geändert und man hörte nichts mehr davon. Man nahm an dass, wie so oft in der Politik, die Angelegenheit „schubladisiert“ und auf die griechischen Kalenden verschoben worden war. Mit dieser Lage konnten wir zufrieden sein.

Nacht- und Nebelaktion "Pilotversuch"

Anfangs Juli 2009 es dann wie ein Blitz aus heiterem Himmel:  Aus der Presse erfuhr die Öffentlichkeit, dass das Erziehungsdepartement DECS klamm heimlich mit den Tessiner  Vorstehern der Katholischen- und der Evangelisch reformierten Kirchen ein Abkommen unterschrieben hatten zur Einführung eines experimentellen, für alle obligatorischen Kurses "Geschichte der Religionen". Die Tessiner Freidenker reagierten umgehend mit einer Pressemitteilung:

L’ASLP, sezione Ticino, dissente dalla soluzione concordata ieri fra il DECS sulla “storia delle religioni”

Präsentation statt Mitsprache

Auf ein Mitsprachebegehren der Tessiner Freidenker hin wurde zugesichert, dass – sobald die Unterlagenentwürfe des neuen Kurses vorliegen – sie Einsicht erhalten und ihre Vorbehalte einbringen können. Am 21. Mai 2010 lud das DECS die interessierten Parteien zur Vorstellung des neuen Faches ein. Die FVS-Ticino nahm mit einer Delegation teil.

Lehrplan

Programma del corso sperimentale di storia delle religioni

Wie Weiter?

Das Fach wird bereits ab dem neuen Schuljahr als Pilotversuch an ausgewählten Tessiner Schulen als obligatorisches Fach gelehrt: Bellinzona (2), Riva San Vitale, Tesserete, Biasca, Lugano Besso und Minusio.

Die Sektion Tessin prüft nun ob

a) der Inhalt des Kursprogrammes die Religions- und Gewissensfreiheit (Art. 15 Abs. 4 der Bundesverfassung) nicht verletzt wird (siehe auch BGE 23 1361 vom 30. Dezember 1897) und das Obligatorium nicht verfassungswidrig ist.

b) sie deshalb eine einstweilige Verfügung über das Obligatorium anstreben will, bis die zuständigen Gerichte über dessen Verfassungsmässigkeit entschieden haben.

c) oder ob sie das Obligatorium akzeptiert und Einfluss auf den Inhalt des Faches zu nehmen sucht, damit erkennbar wird, dass alle Religionen nur vom menschlichen Gehirn stammen und demzufolge Märchen und Instrumente der Machterhaltung sind.