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(file: @@humanistische-rituale.pdf@@)Textarchiv TA-2002-8 Humanismus und Rituale Anmerkungen zu der Frage, ob es humanistische Rituale gibt von Horst Groschopp Dagegen und dafür Eine Lösung des Problems, ob es humanistische Rituale gibt, hängt sicher von der Ritual-Definition ab. Und läge diesem Aufsatz die ursprüngliche Auffassung von Ritual als einem Ritus – einem geregelten, sichtbaren und mit Symbolen versehenen „Gottesdienst“ (und den Direktiven dazu: „Zeremonienbuch“) – zugrunde, könnte bereits hier der Text mit einem „Nein“ enden. Doch schon allein die aktuellen Diskurse über Rituale bieten Gründe genug, sich dem Problem zu widmen. In diesem öffentlichen Disput gibt es erstens eine breite Palette an Ratschlagliteratur mit zum Teil quasireligiösen Herleitungen konkreter Ritualvorschläge.1 Zweitens wird versucht, mit Hilfe des Ritualbegriffs den strukturierten Alltag zu entschlüsseln2, worauf noch einzugehen ist. Drittens zeigt sich ein starker Trend, mit Ritualen pädagogische Probleme in den Schulen lösen zu wollen3 bzw. das Soziale, in das Kinder eingebunden sind und das sie (in Gemeinschaften) sozialisiert, als „performative Bildung“ durch Rituale zu begreifen.4 Viertens kommt eine psychologisch konzipierte Analyse von Interviews zu der Deutung, es gäbe auf Rituale bezogen heute eine weitgehende Wahlfreiheit, die auf eine Individualisierung der Rituale zurückzuführen sei.5 Fünftens ist die wissenschaftliche Beschäftigung mit den Ritualen neu entfacht. Das bedeute „keine Rückkehr zum Ritus“ und stehe nicht mehr im Verdacht, „vom Geschmack am Irrationalen motiviert zu sein“. Im Gegenteil schwinde „die Tabuisierung des Rituals als bloß vormoderner kultureller Erscheinungsform der Unfreiheit“.6 Doch außer diesen Debatten erzwingt ein grundsätzliches Dilemma im säkularen Humanismus eine Beschäftigung mit dem Thema Rituale: zu einer traditionellen Ablehnung von Ritualen steht eine bejahende Praxis quer. 1 Vgl. Heidi Heim: Lebensfeste neu feiern. Mit Märchen und Ritualen Lebensgänge gestalten. München 1999. 2 Vgl. Rituale des Alltags. Hg. von Silvia Bovenschen u. Jörg Bong. Frankfurt a.M. 2002. – Catherine Herriger: Wie Rituale unser Leben bestimmen. Macht und Magie unbewusster Botschaften im Alltag. Leipzig 1998. 3 Vgl. Rituale in Schule und Unterricht. Hg. von Annemarie von der Groeben. Hamburg 2000. – Astrid Kaiser: 1000 Rituale für die Grundschule. Hohengehren 2001. 4 Vgl. Christoph Wulf u.a.: Das Soziale als Ritual. Zur performativen Bildung von Gemeinschaften. Opladen 2001 (Rezension dazu im kommenden Heft von humanismus aktuell). 5 Vgl. Brigitte Baslé u. Nele Maar: Alte Rituale – neue Rituale. Freiburg, Basel u. Wien 1999, S.178. 6 Alfred Schäfer u. Michael Wimmer: Einleitung. Zur Aktualität des Ritualbegriffs. In: Rituale und Ritualisierungen. Hg. von Alfred Schäfer u. Michael Wimmer. Opladen1998, S.10. 1 Horst Groschopp / Humanismus und Rituale / Textarchiv: TA-2002-8 Zum einen bietet der HVD und bieten andere freigeistige Verbände Veranstaltungen an, die als Rituale zu deuten sind bzw. sogar – nach Arnold van Genneps erst 1986 ins Deutsche übersetzten Schrift von 19097 – „Übergangsrituale“ genannt werden können: JugendFEIERn, Bestattungsfeiern, Namensgebungen und Hochzeiten. Es gibt auch Gedenkfeste, sogar einen Welthumanistentag.8 Gerade hinsichtlich der Jugendweihen und Jugendfeiern gibt es einen von den Interessen der Kirchen inspirierten Dialog, der diesen Feiern einerseits jedes Eigenständige und damit auch das Rituelle völlig abspricht, aber andererseits das genaue Gegenteil behauptet und die Feste sogar unter die religiösen Rituale subsumiert.9 Diesen Streit und die weltlichen Angebote ernst nehmend rechnet eine darauf bezogene Jugendweiheforschung von Hartmut M. Griese, an Donald E. Brown anschließend10, Rituale zu den „kulturellen Universalien“ und kommt – nach einer Analyse der Diffusitäten in der heutigen Jugendkultur – zu einem Schluss, der den Humanisten eine Neubestimmung des Ritualbegriffs nahe legt: „dass aber die komplexe, säkularisierte und pluralisierte Gesellschaft keine eindeutigen Regeln, Biographiestrukturen oder Initiationsriten anbieten kann, um Heranwachsenden eindeutige Orientierungen im Handeln und Sicherheit hinsichtlich der eigenen Identität zu gewährleisten.“11 Für Griese sind Rituale „festgelegte Handlungs- und Reaktionsabfolgen mit symbolischer Signalwirkung“.12 Soeffner zitierend (Rituale seien „Orientierungsvorgaben in unsicherem Gelände“13), ist für Griese Jugend generell „ein extrem verlängerter Initiationsritus“. Jugendweihe wie Konfirmation wären darin neu zu verorten. Zum anderen steht der HVD – gemeinsam mit anderen Freigeistern – in der Tradition der Religionskritik. Dazu gehört die Auseinandersetzung mit Riten und Kulten. Seine Organisationsgeschichte beginnt mit den Deutschkatholiken und Lichtfreunden und deren darauf bezogener Kirchenkritik. Daraus wuchs – parallel zu einer demokratisch orientierten Religionswissenschaft und Philosophie – sogar teilweise Ritualfeindschaft. Rituale erscheinen vielen säkularen Humanisten als Antipoden der Aufklärung. Darin hat sie später sowohl ihr Wissenschaftsbezug als auch ihre Verortung bei den politischen „Neuen Linken“ bestätigt. Die vergleichende Verhaltensforschung von Huxley und Lorenz gab den Humanisten die Sicherheit, dass Rituale der Aggressionskompensation dienen. Dieses Verständnis wurde durch die starke Rezeption der Psychoanalyse gestärkt, die den Zwangsmechanismus rituellen Verhaltens bei kran7 Arnold van Gennep: Übergangsriten (Les rites de paasage). Frankfurt a.M., New York u. Paris 1999. 8 Die Hefte 2 und 7 von humanismus aktuell (bzw. noch humanismus heute) haben sich dieser Problematik umfänglich gewidmet. 9 Vgl. Andreas Meier: Jugendweihe – JugendFEIER. Ein deutsches nostalgisches Fest vor und nach 1990. München 1998. – Rainer Liepold: Die Teilnahme an der Konfirmation bzw. Jugendweihe als Indikator für die Religiosität von Jugendlichen aus Vorpommern. Traditionen, Bilanzen, Visionen und Fremdbestimmung. Frankfurt a.M. u.a. 2000, S.189ff. 10 Vgl. Donald E. Brown: Human universals. New York 1991. 11 Vgl. Hartmut M. Griese: Einleitung: Zur Renaissance von Ritualen und Ritualtheorie. In: Ritualtheorie, Initiationsriten und empirische Jugendweiheforschung, hg. von Stephan Eschler u. Hartmut M. Griese, Stuttgart 2002, S.5 (vgl. Rezension in diesem Heft von humanismus aktuell). 12 Griese: Einleitung, S.7, 5. 13 Vgl. Hans-Georg Soeffner: Die Ordnung der Rituale. Frankfurt a.M. 1995. 2 Horst Groschopp / Humanismus und Rituale / Textarchiv: TA-2002-8 ken und religiösen Menschen herausarbeitete (wobei interessanterweise die Gleichsetzung von religiös mit krank wenig thematisiert wurde). Durkheims Soziologie ermöglichte es wiederum, das rein Funktionelle des Rituals zu betonen und es damit von den transportierten Inhalten (den religiösen Überzeugungen) zu lösen. Riten sind Durkheim per Definition religiös. Es sind „Verhaltensregeln, die dem Menschen vorschreiben, wie er sich den heiligen Dingen gegenüber zu benehmen hat“.14 Ins Politische gewendet gestattete eine Kritik alles Ritualhaften die Antizipation, künstliche, zwanghafte, starre und erdrückende Formen des gesellschaftlichen Zusammenlebens zu überwinden. Wie in der Ästhetik15 sollte schließlich auch in der Politik das Spielerische, Kreative, Spontane und Freie dominieren. Nun sind aber die meisten Ritualtheorien, die den Vorstellungen der Humanisten bisher zugrunde lagen (und liegen), seit den achtziger Jahren des 20. Jahrhunderts grundsätzlich hinterfragt worden. Besonders die auf Durkheim zurückgehende16 und auch in der Handlungsphilosophie von Habermas sich findende Annahme, bei Ritualen würden irgendwie „Texte“ (Inhalte) kommuniziert, scheint angesichts neuerer angloamerikanischer Forschungen obsolet zu sein. Mehr noch: „Vergleicht man heutige Ritualtheorien mit jenen an den Anfängen der Ritualforschung vor nicht mehr als hundert Jahren, fällt auf, wie wenig gegenwärtige Theorien über das Ritual mit Religion zu tun haben. Das Wort ’Religion’ kommt zwar in heutigen Untersuchungen noch immer vor, spezifische Riten aber und das Ritual im allgemeinen werden kaum mehr als ausschließlich religiöse Phänomene betrachtet.“17 Vom Ritual zur Ritualisierung Dass „Ritual“ zu einem „Passepartout-Wort“ (Ulrich Steuten) geworden ist und dass es einen ausgiebigen Streit über Rituale gibt, hat sicher viele Ursachen und Motive. Einer der wichtigsten Gründe für Humanisten ist es nachzufragen, ob die beobachtbare Säkularisierung dahin führt, auch die Festkultur zu verweltlichen mit der Folge, dass die Rituale weiter verweltlicht werden bis hin zu der Konsequenz, dass sie einige ihrer Merkmale verlieren, die sie als Bestandteile von (religiösen) Riten und Kulten kennzeichnen. Das hätte zur Folge, sie stärker außerhalb von Religionen und näher in bestimmten Routinen zu suchen (etwa allen regelmäßigen Handlungen im Alltag von Menschen, in Zeremonien, wiederholten symbolischen Zeichensetzungen usw.). So versucht Ulrich Steuten18, im Anklang an Edmund Leach19 – der Ritual als ein kulturell definiertes symbolisches Verhalten beschrieb – dem Ritual eine konstitutive Funktion für den Alltag zu 14 Vgl. Ėmile Durkheim: Die elementaren Formen des religiösen Lebens. Frankfurt a.M. 1981, S.67. – Riten „befriedigen das Bedürfnis des Gläubigen, in regelmäßigen Zeitabständen das Band wieder zu knüpfen und zu festigen, das ihn an die heiligen Wesen bindet“. (S.95) 15 Vgl. Diethart Kerbs: Das Ritual und das Spiel. Bemerkungen über die politische Relevanz des Ästhetischen. In: Die hedonistische Linke, Beiträge zur Subkultur-Debatte, hg. von Diethart Kerbs, Neuwied u. Berlin 1970, S.24ff. 16 Vgl. Durkheim: Die elementaren Formen, S.143: „Da es aber unmöglich ist, eine Religion zu verstehen, wenn man die Ideen nicht kennt, auf denen sie beruht“. 17 David J. Krieger u. Andrėa Belliger: Einführung. In: Ritualtheorien, Ein einführendes Handbuch, hg. von Andrėa Belliger u. David J. Krieger, Opladen 1998, S.7. 18 Vgl. Ulrich Steuten: Das Ritual in der Lebenswelt des Alltags. Gießen 1998. 19 Vgl. Edmund Leach: Kultur und Kommunikation. Zur Logik symbolischer Zusammenhänge. Frankfurt a.M. 1978. 3 Horst Groschopp / Humanismus und Rituale / Textarchiv: TA-2002-8 geben. Rituale werden bei Steuten zu festen Bestandteilen „eines spezifischen sozialen Verfahrens innerhalb der Interaktionssysteme einer modernen Gesellschaft“. Damit der Alltag den Menschen gelingt, so die These, müsse das Zusammenleben durch Rituale immer wieder in einen „Zustand der Fraglosigkeit“ zurückversetzt werden. Eine weitere Konsequenz der Öffnung des Ritualbegriffs benennt das Buch von Victor Turner mit dem programmatischen Titel Vom Ritual zum Theater.20 Turner will die Grenzen des Rituellen in den Alltag hinein verlängern, um dort nach kreativem Potential für die Bewältigung von menschlichen Krisen („soziale Dramen“) in Schwellensituationen zu fragen. Rituale sind ihm keine Ausdrücke von Mythologien, sondern Kulturformen der Dilemma-Klärung.21 So sieht er in den stammesgesellschaftlichen Initiationen auch Freiheiten, schöpferisches Spiel und Lehrreiches für aktuelle Krisenbewältigungen. Turner wendet seine Erkenntnis auf (zu seiner Zeit aktuelle) Jugendkulturen der sechziger Jahre des 20. Jahrhunderts an. Seinen positiven Ritualbegriff setzt Turner bewusst in Gegensatz zur Ritualkritik im Anschluss an Sigmund Freud22, die darin eher pauschal inhaltsleere Zwangshandlungen mit nicht mehr hinterfragten Inhalten sieht, die der Sicherung von – meist männlicher – Herrschaft dient. (Zweifellos bleibt dies aber ein wichtiger Aspekt der Ritualität.) Parallel dazu und unter gleichem Titel wie Turner untersucht der Theaterwissenschaftler Paul Stefanek Riten als „dramatische Aufführungen“. Er will dies allerdings nicht als „Inszenesetzung eines Textes“ verstanden wissen, sondern als gestaltender Umgang mit den Abfolgen und Handlungen in Raum und Zeit bei Trennung von Darstellern (Priestern) und Zuschauern (Gläubigen) in komplizierteren Kulten und besonders in Ekstaseritualen.23 Ähnliches findet sich in anderen Schriften zur „cultural performance“ in den Medienwissenschaften und der Ethnologie. Es ist nun auffällig, dass sich parallel zum Begriff und der Forschungspraxis der „cultural studies“24 Ende der siebziger Jahre des vorigen Jahrhunderts die „rituell studies“ entwickelten, vorangetrieben von Ronald L. Grimes und nach 1985 gruppiert um die Zeitschrift Journal of Ritual Studies. Schon bei Tieren gebe es die „stilisierte, wiederholte Gebärde und Körperhaltung“. Und dort, „wo die Bedeutung, die Kommunikation oder die Performance wichtiger wird als der funktionale und praktische Zweck, beginnt die Ritualisierung.“25 In diesem Sinne werden rituelle Aspekte des Sports (z.B. Fußball), der Politik, der Massenmedien, der Kunst, des Theaters, der Rechtsprechung, der Werbung, der Wissenschaft u.a. untersucht. Im Mittelpunkt steht hier nicht das Ritual, sondern die „ritualisierte Handlung“; nicht der Ritus, sondern die „Ritualisierung“ im Sinne einer „Performance“. 20 Vgl. Victor Turner: Vom Ritual zum Theater. Der Ernst des menschlichen Spiels. Frankfurt a.M. 1995 (zuerst 1989). 21 Vgl. Victor Turner: Das Ritual. Struktur und Anti-Struktur.Franfurt a.M. u. New York1989. – Die vier Phasen der „sozialen Dramen“: Der Bruch sozialer Normen spitzt Krisen im Zusammenleben zu. Dies erfordert deren Bewältigung mittels juristischer oder ritueller Akte, deren Ausgang konträr ist. Es besteht die Möglichket einer Reintegration oder der Anerkennung der Abspaltung. 22 Sigmund Freud: Neue Folge der Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse. GW XV London 1941. 23 Vgl. Paul Stefanek: Vom Ritual zum Theater. In: Ders., Vom Ritual zum Theater, Gesammelte Aufsätze und Rezensionen, Wien 1992, S. 218, 221. 24 Vgl hierzu den Überblick von Dietrich Mühlberg in humanismus aktuell, H. 9, S.86ff. 25 Ronald Grimes: Typen ritueller Erfahrung. In: Ritualtheorien, Handbuch, S.120. 4 Horst Groschopp / Humanismus und Rituale / Textarchiv: TA-2002-8 Die Teilnehmer der „Aufführung“ seien sich nach dieser Auffassung zwar bewusst, dass sie ein Ritual ausführen und zeigen deshalb „rituelles Engagement“. Aber sie verzichten (zeitweilig, in diesem Vorgang) auf eigene Handlungsbestimmungen, damit die Kommunikation gelingt. Am weitesten geht dabei Roy A. Rappaport, der die „rituelle Akzeptanz“ der Menschen als kulturelles Muster definiert und dem genetischen Code gleichsetzt, der den Tieren bestimmtes Verhalten diktiert: Konvention wird etabliert und erzeugt Ordnung.26 Die Suche nach Ordnung im zwischenmenschlichen Handeln wird zu einem Rituale konstituierenden Prinzip: Systematisierung der ungeordneten Erfahrung.27 Speisevorschriften (etwa des Alten Testaments) oder Reinigungsgebote werden damit ebenso völlig „unreligiös“ erklärt wie Alltagshandlungen. „In einem Chaos sich ständig verändernder Eindrücke konstruiert jeder von uns eine stabile Welt, in der die Gegenstände erkennbare Umrisse, einen festen Ort und Bestand haben.“28 Dabei bringe es für die wissenschaftliche Betrachtung dieser Vorgänge wenig, sie allesamt unter den Begriff des Rituals zu verorten. Zwar setze jede Ritualform körperliche und ökologische Ritualisierung voraus. Deren Gestalt sei dann aber doch – trotz aller Übergänge und Verwicklungen – zu unterscheiden in Anstandsregeln, Zeremonien, Magien, Liturgien und Feiern.29 Ritual versus Routine Eine Ausweitung des Ritualbegriffs bzw. seine Neufassung begibt sich offensiv in Kontrast zur traditionellen Religionswissenschaft und Ethnologie, auch wenn die Erneuerer, wie es Ulrike Brunotte30 tut, dabei offene Provokationen vermeiden. Brunotte stellt fest, dass moderne Gesellschaften, die sich ständig im Übergang befinden, auch permanent neue Rituale hervorbringen. Diese sucht sie dann u.a. in der Medienkultur und deren Gewaltinszenierungen und fragt, ob wir es hier mit Ritualen zu tun haben, die Ausdrucks- und Verarbeitungsformen von Krisen- und Veränderungserfahrungen sind. Brunotte macht auf zwei gegenläufige Prozesse aufmerksam, in die auch die organisierten Freigeister existentiell hineingestellt ist: zum einen sind Jugendliche bei ihrem Eintritt ins Erwachsenenleben (und man kann hinzufügen, sind die Menschen auch in anderen Schwellensituationen) immer mehr selbst verantwortlich, wie sie diese Übergänge bewältigen. Man kann dies den Preis für den – durchaus auch bewusst betriebenen – Abschied von festen Gemeinschaften nennen. Noch für Durkheim aber war die Gemeinschaftsbildung der wichtigste Effekt des Rituals und Hauptbestandteil seiner Definition.31 26 Vgl. Roy A. Rappaport: Ritual und performative Sprache. In: Ritualtheorien, Handbuch, S.191ff. 27 Stanley J. Tambiah: Eine performative Theorie des Rituals. In: Ritualtheorien, Handbuch, S.230: „Das Ritual ist ein kulturell konstruiertes System symbolischer Kommunikation. Es besteht aus strukturierten und geordneten Sequenzen von Worten und Handlungen, die oft multi-medial ausgedrückt werden und deren Inhalt und Zusammenstellung mehr oder weniger charakterisiert sind durch: Formalität (Konventionalität), Stereotypie (Rigidität), Verdichtung (Verschmelzung) und Redundanz (Wiederholdung).“ 28 Mary Douglas: Ritual, Reinheit und Gefährdung. In: Ritualtheorien, Handbuch, S.81. 29 Vgl. Grimes: Typen, S.119. 30 Ulrike Brunotte: Ritual und Erlebnis. In: Zeitschrift für Religions- und Geistesgeschichte, Leiden 54[2000]4,S.349-367. – Der gleiche Artikel findet sich übrigens in dem o. zit. Buch von Eschler u. Griese. 31 Durkheim: Die elementaren Formen, S.520: Riten sind ein „Mittel, mit denen sich die Gruppe periodisch erneuert“. 5 Horst Groschopp / Humanismus und Rituale / Textarchiv: TA-2002-8 Zum anderen – jetzt wieder Brunotte – haben sich „Initiativsuggestionen auf den gesamten Bereich unserer Erlebnis- und Ereigniskultur ausgedehnt und sich weitgehend aus der Sphäre der Arbeit und der Politik gelöst“. Man kann nun daraus folgend gern fragen, wer denn nun dafür zuständig ist und ob nicht die traditionellen Religions- und Weltanschauungsverbände hier mehr Verantwortung für Angebote tragen, als ihnen bisher bewusst ist. Voraussetzung für eine präzisere Positionsbestimmung bei den Humanisten ist sowohl die Kenntnisnahme verschiedener Positionen, die zwischen dem engeren Ritualbegriff und dem weiteren vermitteln, wie etwa die Thesen des Ägyptologen Jan Assmann in seinen Studien über das „kulturelle Gedächtnis“.32 Das wird hier ausgespart. Wesentlicher bei dieser Suche scheint allerdings das Festhalten an der Unterscheidung von Routine und Ritual. Einen Grundsatzartikel dazu veröffentlichte der Indologe Axel Michaels in dem Buch von Corina Caduff und Joanna Pfaff-Czarnecka Rituale heute33. Es findet sich eine Kurzfassung im Internet mit einer ausführlichen und sehr empfehlenswerten Gesamtdarstellung, was Rituale sind, besonders aber, dass sie immer etwas ausdrücken, nämlich ihre Bedeutung – „... es wimmelt nur so von Symbolismen und Funktionen“. Michaels fragt, was eine habituelle oder symbolische Tat über eine rituelle Handlung hinaushebt und sie zu einem Bestandteil eines Rituals macht (z.B. das Handauflegen im Krankenhaus bzw. in der Kirche oder das Zerschmettern einer Sektflasche am Schiffsrumpf). Er benennt fünf Kompomenten (die hier nicht weiter erläutert werden sollen): der Anlass; der förmliche Beschluss; bestimmte formale Handlungskriterien wie Förmlichkeit, Öffentlichkeit, Unwiderrufbarkeit und Limität (Grenzziehung); modale Handlungskriterien wie Vergemeinschaftung, Transzendez und subjektive Wirkung; und schließlich die Veränderung der Identität, von Rolle, Status bzw. Kompetenz. Michaels betont – gemeinsam mit anderen Religionswissenschaftlern34 – die Aussage, dass sich Ritual und Routine besonders dadurch unterscheiden, dass sich das Ritual der Reflexion entzieht und Mitdenken sowie die Verfügbarkeit anderer Möglichkeiten ausschließt. Es werde versucht, Zeitlosigkeit zu inszenieren und sich gegen Veränderungen zu stemmen. Dieses Urteil kommt dem aufklärerischen Anspruch von Humanisten sehr nahe. Michaels verweist jedoch zugleich darauf, dass durch den ritualisierten Spannungsabbau Lebenshilfe geleistet werde und durchaus ein Lernen stattfinde, denn Menschen lernen durch Lust und Unlust, Schmerz und Lob. Mit ihren Ritualen stemmen sich Menschen gegen Unsicherheiten von Leben, Zukunft oder Tod. Diese Wirkung könne nur durch „Religio“ erzeugt werden. In dem Begriff „Religio“ fasst Michaels – letztlich Mircea Eliades Definition säkularisierend, das Ritual sei die „Brücke zum Heiligen35 – die Aura des Geschehens, die Erhabenheit, den Ernst der Handlung und die Überhöhung des Vorgangs. „Religio“ bezeichnet dasjenige, was raumzeitlich zwischen Andacht und Heiligung das Spirituelle ausmacht. Ein säkulares Ritual ist Michaels dem- 32 Vgl. Jan Assmann: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen. München 2000. 33 Rituale heute. Theorien – Kontroversen – Entwürfe. Hg. von Corina Caduff u. Joanna Pfaff-Czarnecka. Berlin 1999. 34 Vgl. Handbuch religionswissenschaftlicher Grundbegriffe. Hg. von Hubert Cancik u.a., Stuttgart 1988ff. 35 Mirca Eliade: Das Heilige und das Profane. Vom Wesen des Religiösen.Frankfurt a.M. u. Leipzig 1998. 6 Horst Groschopp / Humanismus und Rituale / Textarchiv: TA-2002-8 zufolge ein Ding der Unmöglichkeit, es sei denn, man unterlege ihm einen theistischen Religionsbegriff. Säkulare Humanisten werden für ihn, seine Thesen anwendend, letztlich zu Theisten, wenn sie ihre Feierangebote zu Ritualen stilisieren wollen. Das nimmt den Humanismus v.a. als Wissenschaft und spricht ihm jede eigenständige Kulturauffassung ab, wie sie in Religionen mit dem Begriff „Glauben“ bezeichnet wird. Das meint, Humanismus habe keine (sicher relativen und historisch wandelbaren) „letzten Antworten“ im Sinne von Gewissheiten und Überzeugungen, Lebensanschauungen und Grundannahmen über den Menschen und die Welt. Selbst wenn Humanismus so eng gefasst würde – was findet dann auf ihren Zusammenkünften statt, besonders wenn sie festlich gestaltet sind? Humanistische Rituale Zurück zur Ausgangsfrage nach der Möglichkeit humanistischer Rituale. Vorher ist noch festzuhalten, dass es heute in modernen Gesellschaften kaum noch allgemein verbindliche, v.a. religiös geprägte Rituale gibt, die das tägliche Leben und dessen Konventionen prägen. In diesem säkularen Kontext sind eigene Rituale möglich, wenn der Humanismus erstens auch als ein Bekenntnis aufgefasst wird, also eine Art „weltliche Religio“ (Sinnbezug, Gewissenhaftigkeit, Gefühl, Bindung, Sorgfalt ...) besitzt. Das ist durchaus kulturell und säkular begründbar und bedarf keiner theistischen Grundlegung. Was in Ritualtheorien über Theater und Rollenspiel ausgesagt wird, könnte für die Beschreibung und Inszenierung der Überhöhungen (der Erhebung ins Feierliche und Erhabene) nützlich sein. Allerdings verbindet sich die Frage nach dem Zusammenhang von Bekenntnis und Ritual mit der nach dem von Ritualen mit Gemeinschaft. Dabei widerstrebt dem modernen Humanismus, von „Gemeinschaft“ als Wort und Form des besonderen Zusammenhalts positiv auszugehen. Man liebt das Individuum. Nun hat aber Victor Turner umfänglich – van Gennep folgend – das Phänomen der „communitas“ beleuchtet. Er unterlegt seiner Analyse Martin Bubers einfache These: „Gemeinschaft ist, wo Gemeinschaft geschieht.“ In der Bewältigung ihrer sozialen Krisen (Dramen) spüren nach Turner Menschen immer wieder den Willen und Zwang, andren Menschen einfach als Menschen nahe zu sein und Gemeinsinn zu zeigen (den Sinn für das Gemeinsame zu fühlen, unabhängig von Beruf, Rang, Besitz, Privileg usw.)36 Turner belegt nun, dass Religion (Mythisches, Symbolisches, Rituelles) hier eine kulturelle Funktion hat. Ob diese ersetzt werden kann durch weltliche Rituale, Symbole und Legenden ist noch nicht untersucht worden. Die Fähigkeit „weltliche Religio“ sein und Gemeinschaft konstituieren zu können ist aber zweitens letztlich eine Frage der künftigen Existenz des Humanismus, will er über bloße Organisation und philosophischen Standpunkt hinaus (verhaltenswertige) Kultur und (soziale) Struktur bilden.37 „Humanistische Rituale“ sind möglich, wenn offene Formen garantiert werden können. Das Mindes- 36 Vgl. Turner: Das Ritual. 37 Vgl. Horst Groschopp: Humanismus und Kultur. Berlin 2000. 7 Horst Groschopp / Humanismus und Rituale / Textarchiv: TA-2002-8 te wäre die permanente öffentliche Selbstkritik am eigenen rituellen Tun. Das bedingt aber die Frage, ob das, was dann stattfindet, noch Rituale sind und nicht Zeremonien. Die Notwendigkeit humanistischer Rituale lässt sich drittens am ehesten damit begründen, dass mit ihnen Lebenshilfe geleistet wird. Rituale erleichtern nun einmal Schwellenpassagen und das Bewältigen „dramatischer Situationen“ dadurch, dass man sich in bekanntes Tun und Reden einfügt, etwa, wie man Konflikte durch Regelhaftigkeit der kommunikativen Handlungen löst oder wie man sich bei einer Bestattung benimmt. Hier ergibt sich aber die Frage, ob das nicht „Höflichkeit“, „Benimmordnung“, „Stil“, „Interaktionsregel“, „Brauch“ oder „Routine“ ist und kein Ritual. Viertens kann davon ausgegangen werden, dass im modernen (praktischen) Humanismus Veranstalter und Teilnehmer bewusst mit Symbolen umgehen und bekannte Zeichen verfremden in einer Welt, der ein innigliches Verhältnis zu den Ritualen sowieso schon weitgehend abhanden gekommen ist: „Wer mitmacht, weiss ... dass er nur zitiert.“38 Aber sind solche Zitate dann nicht eher AntiRituale, bewusste ästhetische Angriffe auf die Sakralität des Rituals? Mit „der ins Bewusstsein tretenden ästhetischen Distanz weicht der verpflichtende Glaube auf die Realität des Dargestellten einem freiwillig eingegangenen Einverständnis auf Akzeptierung der Scheinrealität als wahrer für die Dauer des Spiels.“39 Daraus folgen „Aufführung“ und „Inszenierung“ statt „Ritual“ und „Kult“. Fazit Humanisten brauchen unbedingt eine Reflexion des Ritualbegriffs. Nur so können sie am öffentlichen Diskurs darüber teilnehmen. Für ihre eigenen Angebote benötigen sie das Wort wohl nicht. Das ist aber erst zu prüfen. Vielleicht reicht ihnen eine ordentliche Theorie und Praxis der säkularen Festkultur. Die Abstinenz gegenüber dem Ritualbegriff als Erklärungswort für eigenes Tun ergibt sich aus dem Selbstverständnis der offenen Weltanschauungsgemeinschaft als einer Kulturvereinigung (denn dass sie keine Kultvereinigung ist, bestreitet wohl niemand). In diesem doppelten Herangehen (Analyse- und Hilfswort ja, Ordnungs- und Angebotsbegriff prüfen) können sich Humanisten durchaus an Catherine Bell orientieren. Sie ist der Auffassung, dass es das Ritual gar nicht gibt, sondern nur ein Forschungsinteresse daran, das diesen Begriff benutzt, um das Bestimmte zwischen Glauben und Verhalten, Handeln und Denken usw. zu finden.40 Und da können dann ja alle ihren eigenen Begriff – auch den des Rituals – unterlegen oder einen anderen nehmen. ________________________________________ In: humanismus aktuell, Zeitschrift für Kultur und Weltanschauung. Hg. v. d. Humanistischen Akademie Berlin. Berlin 6(2002)11, S.50-57. 38 Hans-Rudolf Schär: Mehr Rituale? In: Reformatio. Zeitschrift für Kultur, Politik und Kirche. Bern 1991, H.5, S.372. 39 Paul Stefanek: Vom Ritual zum Theater, S.227. 40 Vgl Catherine Bell: Ritualkonstruktion. In: Ritualtheorien, Handbuch, S.37ff. 8