Das Völkerrecht und die Znüni-Banane

In Zeiten des Ukrainekriegs fragt man sich, ob das Völkerrecht überhaupt noch greift. Das tut es sehr wohl, sagt Helen Keller, Richterin und Professorin für Völkerrecht. Die grosse Einigkeit zwischen den Staaten, wenn es um Sanktionen gegen Russland geht, sei beispiellos. Trotzdem: Die Zukunft macht ihr Sorgen – wenn sie an Putin denkt.

Helen Keller ist Professorin für Völkerrecht an der Universität Zürich und Ver- fassungsrichterin am Verfassungsgericht von Bosnien-Herzegowina.

Interview Camilla Landbø
Wenn Sie zum Znüni eine Banane auf dem Teller haben, dann wegen des Völkerrechts. Das sind Ihre Worte. Wie meinten Sie das?
Helen Keller: Für jeden Staat sind Grenzen die Basis. Ohne Grenzen gibt es kein Territorium, ohne Territorium keinen Staat, ohne Staaten keine Völkerrechtsordnung. Gerade in der heutigen Zeit spielen die Grenzen eine extrem wichtige Rolle. Wir träumen zwar von einer Welt, die grenzenlos ist, aber gleichzeitig befestigen wir die Grenzen immer mehr, etwa im Asylrecht oder im Handelsrecht. Und mit der Banane wollte ich zeigen, dass sobald eine Grenze durchlässig ist, sei es für Güter wie eine Banane oder für Menschen wie Mallorca-Reisende, dann müssen die Staaten zusammenwirken.

Damit ich nach Mallorca fliegen kann?
Ja. Als moderner Mensch sind Sie daran gewöhnt, dass Sie einfach von einem Staat in den anderen reisen können. Während der Coronakrise haben Sie aber gemerkt: «Oh, die Grenzen können zugehen.»

Und für meine Znüni-Banane?
In der Schweiz wachsen ja bekanntlich keine Bananen, also muss es Abkommen geben, die unter anderem regeln, wie hoch der Zoll ist. Der Zoll ist ein Handelshemmnis. Wenn die Politik zum Beispiel möchte, dass die Schweizerinnen und Schweizer mehr einheimische Äpfel essen und weniger ausländische Bananen und deshalb die Bananen mit hohen Zöllen belegt, dann sind das handelspolitische Regelungen, die mit dem Völkerrecht vereinbar sein müssen.

Es stecken also zahlreiche Bestimmungen in einer Banane, auch menschenrechtliche…
Genau. Ebenso soziale Rechte. Und gesundheitliche: Womit durften die Bananen auf dem Weg in die Schweiz behandelt werden, damit sie reifen konnten und noch geniessbar sind, wenn sie bei uns im Laden landen? Das Völkerrecht spielt also in unserem täglichen Leben eine zentrale Rolle.

Eben: Zum Völkerrecht gehören auch die Menschenrechte. Erstaunlicherweise hat der Vatikan die Menschenrechtscharta der UNO immer noch nicht unterschrieben.
So ist es. Der Vatikan und Weissrussland sind auch die einzigen zwei Staaten, die die Europäische Menschenrechtskonvention nicht ratifiziert haben.

Weshalb wohl?
Vielleicht aus Angst vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte. Wenn wir den Vatikan in einem internationalen Menschenrechtsschutz eingebunden hätten, wären wir mit der Aufklärung von Missbrauchsfällen gewiss schon viel weiter. Aber der Vatikan unterschreibt wohl nicht, weil ihm auch andere Themen Angst machen.

Welche Themen?
So wie der Vatikan heute nach wie vor aufgestellt ist, hätte er ja ein riesiges Diskriminierungsproblem respektive müsste das vorgängig lösen, wenn er eine Menschenrechtskonvention unterschreiben möchte.

Sie sprechen von den Frauen?
Ja, die Frauen können in der Kirchenorganisation nicht die gleichen Funktionen wie die Männer übernehmen. So was kann sich heutzutage kein Staat mehr leisten. Diese Diskriminierung gilt für alle Führungspositionen in der Kirche. Die Frauen hingegen dürfen die WCs putzen.

Und kochen.
Genau. Im Übrigen musste auch die Schweiz in den 70er-Jahren vorgängig Änderungen vornehmen, bevor sie die Europäische Menschenrechtskonvention 1974 ratifizieren konnte. Sie musste das Frauenstimmrecht einführen.

Das Recht Gottes ist also höher als das Menschenrecht.
Na ja, gewisse arabische Staaten haben bei der Ratifikation von internationalen Menschenrechtsverträgen global einen Vorbehalt angebracht – zugunsten der Scharia.

Der Papst hat sich zum Ukrainekrieg geäussert: Das Bellen der Nato vor Russlands Tür habe wohl Putin provoziert. Auch stellt er die Waffenlieferungen in die Ukraine infrage.
Hm. Je mehr Waffen man liefert, desto länger geht der Krieg und desto mehr Menschen sterben. Liefert man sie nicht, werden wohl einfach sehr viele Ukrainer abgemurkst, aber der Krieg dauert vielleicht insgesamt weniger lang. Aus einem pazifistischen Bestreben heraus kann ich die Aussage des Papstes bezüglich Waffenlieferungen nachvollziehen.

Sind Kriege nicht per se völkerrechtswidrig? In der UN-Charta ist das «Allgemeine Gewaltverbot» im ersten Kapitel festgehalten.
Also, seit 1945 – seit der Verabschiedung der Charta – ist der Angriffskrieg geächtet. Das heisst aber nicht, dass jeder Krieg völkerrechtswidrig ist. Es gibt Kriege, in denen man sich selbst verteidigt. Mit diesem Argument schwatzen sich allerdings viele Staaten heraus, eröffnen einen Krieg und sagen: «Wir müssen unser Territorium verteidigen, weil bei uns ein anderer Staat illegitim Umstürzler mit Waffen, Technologie und Know-how unterstützt.» Bei solchen Kriegen ist es schwierig zu sagen, ob sie völkerrechtswidrig sind.

Gilt das auch für den Ukrainekrieg?
Im Fall von Russland hätte man früher, schon 2008, reagieren sollen, als die Russen Georgien angriffen. Bereits hier hätte man sagen müssen, das ist völkerrechtswidrig. Allerspätestens jedoch 2014, als sie die Krim besetzten. Da hätte man den Russen klarmachen sollen, dass die gewaltsame Verschiebung von Grenzen einen massiven Völkerrechtsbruch darstellt. Die Welt hat dieses russische Gebaren völlig unterschätzt. Man dachte: Ja, das sind so postsowjetische Scharmützel, das geht uns hier im Westen nicht viel an.

Und jetzt?
Jetzt hat ein Wandel in der Wahrnehmung stattgefunden. Man hat realisiert, dass es Putin nicht nur darum geht, gewisse Grenzen ein wenig zu verschieben. Es scheint ihm wirklich ernst zu sein mit dem Aufbau eines postsowjetischen Reiches.

Wirklich?
Würde ich schon sagen. Diese weitere Perspektive ist nicht nur Putins Perspektive. Sie wird auch von einem Kreis älterer Männer in seinem Umfeld geteilt. Gemeinsam träumen sie von einer postsowjetischen Herrschaft. Auch die Geschichtsklitterung, die von russischer Seite betrieben wird, deutet auf diese Vision, auf dieses Hirngespinst hin.

Sonst hätte wohl Russland den Krieg nie begonnen?
Dieser Krieg entbehrt jeglicher Rationalität. Alleine schon der Wirtschaftsschlamassel, der dadurch ausgelöst wurde, vor allem in Russland selbst, hätte die Russen vom Angriff abhalten sollen. Ebenso die immense Zerstörung in der Ukraine oder die Krise auf dem Ernährungsmarkt von Weizen. Weizen ist ein Grundnahrungsmittel, das löst nun grosse Hungersnöte in der ganzen Welt aus. Russland ist in den letzten hundert Jahren nie mehr so isoliert gewesen wie jetzt.

Ob es innenpolitisch nicht langsam eng wird für Putin?
Doch. Aber nicht, weil ihm die Unterstützung der breiten Bevölkerung wegfällt. Sondern weil es immer mehr Oligarchen gibt, die sich von ihm distanzieren. Sie stellen fest, dass ihr Geld ausserhalb von Russland blockiert ist. Zwischen den Oligarchen und der russischen Führung gab es eine Art ungeschriebenen Pakt, und zwar: Sie dürfen reich werden und das Leben nach einem westlichen Standard in Saus und Braus geniessen, dafür halten sie sich still. Und im Gegenzug stabilisiert Putin das System und ermöglicht den wirtschaftlichen Aufschwung.

Und jetzt nimmt man ihnen im Ausland die Gelder, Villen und Yachten weg.
Die Wirtschaft ist zusammengebrochen, der Pakt funktioniert nicht mehr. Es gibt immer mehr mächtige Menschen in Russland, die nun laut sagen: «Ich stehe nicht hinter diesem Krieg. Der ist schlecht für uns.» Aber ob das innerpolitisch genügen wird, damit sich in Russland etwas verändert, ist schwierig zu sagen. Dazu sehen wir viel zu wenig hinter den neuen eisernen Vorhang.

Angriffskrieg, Folter, Vergewaltigungen, Hinrichtungen, Zerstörung von zivilen Einrichtungen wie Spitäler und Schulen. Die Liste der völkerrechtlichen Verbrechen Putins ist lang. Sie haben mal gesagt, wenn ein Staat sich weigert, sich ans Völkerrecht zu halten, ist ein internationales Gericht fast machtlos.
Bei solch schweren Völkerrechtsverletzungen kann man nicht mehr wegschauen. Der moralische Druck, dass man diejenigen, die die Kriegsverbrechen begangen haben, zur Rechenschaft zieht, wird riesig sein. Bei den hochrangigen Verantwortlichen wird man es wohl nicht hinkriegen.

Und Putin?
Ich glaube nicht, dass man Putin jemals vor ein Gericht bringen kann. Solange er in Russland bleibt, wird das äusserst schwierig sein.

Carla del Ponte hat einen internationalen Haftbefehl gegen Putin gefordert.
Zurzeit geniesst Putin als Präsident Immunität, wie alle anderen Amtsträger auch. Innerhalb Russlands hat er sich zudem die Immunität lebenslänglich gesichert. Dass Putin nach dem Ukraine-Krieg auf Reisen geht, würde ich bezweifeln: Er könnte nicht mehr sicher sein, ob man ihn nicht fasst, wenn er im Ausland unterwegs ist.

So viele Verträge, Abkommen, Konventionen: Und dann doch dieser Angriffskrieg und diese Menschenrechtsverletzungen. Wofür all diese Regelwerke?
Vor rund 120 Jahren begann man, den Krieg nicht mehr einfach als eine Weiterführung der Politik mit anderen Mitteln anzuschauen. Es hiess neu: Wenn Ja zu einem Krieg, dann sollten aber die Grauen auf dem Schlachtfeld auf ein Minimum reduziert werden. Die Haager und die Genfer Konventionen wurden erlassen. Ohne diese Konventionen wären Kriege noch viel schlimmer.

Aber im Ukrainekrieg…?
Die Gräueltaten sind schrecklich. Aber, wenn man in die Geschichte des Völkerrechts zurückschaut, sieht man, dass es noch nie eine derart grosse Einigkeit der Staatengemeinschaften gab, um einen Aggressor zu sanktionieren. Es ist auch noch nie vorgekommen, dass der Internationale Gerichtshof in Den Haag in einem laufenden Krieg superprovisorische Massnahmen erlässt und sagt: «Die Kriegsparteien müssen sofort mit dem Krieg aufhören.» In der Geschichte des Völkerrechts ist das ein Erfolg. Aber natürlich hält sich Putin nicht daran.

Wie wird die Aufarbeitung der Verbrechen sein?
Der Internationale Strafgerichtshof arbeitet eng mit verschiedenen nationalen Teams zusammen, mit ukrainischen, europäischen. Sie gehen vor Ort und versuchen Beweise zu sammeln, um die Kriegsverbrechen zu dokumentieren. Auch das ist im Übrigen einmalig.

Hat man das früher nicht gemacht?
Nein. Das hat auch damit zu tun, dass man normalerweise nicht in ein Kriegs- gebiet reisen kann. Die Ukrainer haben den Teams aus Italien, Frankreich, Grossbritannien oder der Schweiz Sicherheit garantiert. Die Leichen auszugraben, die Fotos zu machen, das ist eine riesige Arbeit, für die die Ukrainer selbst nicht genug Personal hätten. Weiter gibt es Fachpersonen, die die Satellitenbilder analysieren, Daten sammeln, um herauszufinden, wo die Massengräber sind. Und es braucht Menschen, die wie Gerichtsmediziner arbeiten und etwa einen Durchschuss im Ohr feststellen können oder dass ein Mensch vor seiner Tötung gefoltert wurde. Es ist eine furchtbare Arbeit. Da müssen Menschen mit starken Nerven hin.

Heute gibt es also mehr Einigkeit und mehr Mittel, um gegen Kriegsverbrechen vorzugehen. Aber die Empörung bleibt, dass man in ein Land – trotz Völkerrecht – einfach einmarschieren kann.
Der wesentliche Faktor in diesem Krieg ist, dass Russland eine Atommacht ist. Die Ukraine gab ja ihre Atomsprengkörper ab bei der Auflösung der Sowjetunion. Wir haben hier ein geopolitisches Ungleichgewicht: auf der einen Seite eine Atommacht, auf der anderen Seite einen Staat, der nicht in die Nato eingebunden ist und keine Atomwaffen besitzt. Man stoppt die Russen nicht, weil man Angst hat, dass ein Atomkrieg losgehen würde.

Die Ukrainer wollen in die EU…
Das ist völkerrechtlich ihr Recht. Aber die Russen schreiben die Geschichte anders, sie sagen: Das ist unser Volk, unser Gebiet.

Russland hat nun ebenso den Finnen gedroht, wenn sie der Nato beitreten. Würde es Putin wagen, Finnland anzugreifen?
Ich hoffe es nicht. Allerdings habe ich das Vertrauen verloren, dass Russland im Moment nach einer Rationalität handelt, die wir nachvollziehen können. Wie bereits gesagt: Alle rationalen Gründe sprachen gegen den Krieg in der Ukraine. Jetzt sind wir jedoch mittendrin, und zwar in einer Grausamkeit, die sogar Pessimisten nicht vorausgesehen haben.

Ist ein Weltkrieg möglich?
Es wäre grässlich, aber: Ja. Putin ist alt, hat nichts mehr zu verlieren und möchte vielleicht in die Geschichte eingehen – auch wenn es mit einem grössenwahnsinnigen Projekt ist. Das würde uns allen ein kollektives Trauma über Jahrzehnte bereiten. Wir wollen daran glauben, dass es keinen Atomkrieg geben wird – obwohl es im Moment eine sehr kritische Situation ist.


Helen Keller ist Professorin für Völkerrecht an der Universität Zürich und Verfassungsrichterin am Verfassungsgericht von Bosnien-Herzegowina. 2008 wurde sie von der UN-Generalversammlung in den Menschenrechtsausschuss der Vereinten Nationen gewählt. 2010 wurde sie wiedergewählt. Von 2011 bis 2020 war sie Richterin am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte. Seit 2020 amtet sie als Verfassungsrichterin am Verfassungsgericht von Bosnien-Herzegowina. 2021 wurde die Rechtswissenschaftlerin mit dem Madame de Staël-Preis geehrt. Als erste Schweizerin erhielt sie den renommierten Preis für die Förderung der kulturellen Werte Europas. Helen Keller ist verheiratet, lebt in Zürich und ist Mutter von zwei Söhnen.