Religion auf Bestellung - das Geschäft mit der Esoterik

In schwierigen Momenten im Leben gewinnt die Spiritualität an Bedeutung. Kurbelt also die Corona-Pandemie die sonst schon starke Esoterik-Industrie noch mehr an?

Kartenlegende Hand

Von Sandro Bucher

 

Es sind nicht mehr nur Räucherstäbchen, Kristallkugeln und Tarot-Karten. Esoterik ist längst nicht mehr nur eine geheime Lehre, die von einem Kreis weniger Menschen angeboten und praktiziert wird. Heute ist das Geschäft mit der Esoterik eine veritable und milliardenschwere Industrie.

So schätzen Kennerinnen und Kenner der Branche, wie etwa der deutsche Trend- und Zukunftsforscher Eike Wenzel, den Gesamtumsatz dieses Marktzweigs auf bis zu 20 Milliarden Euro im Jahr. Allein in Deutschland. Auch Johannes Fischler, Psychologe und Autor des Buchs «New (C)Age – Esoterik 2.0 – wie sie die Köpfe leert und die Kassen füllt» schätzt diese Zahl als realistisch ein.

Da es jedoch weder einen Berufsverband noch eine Gewerkschaft für den esoterischen Sektor gibt – und die Grenzen zwischen Scharlatanerie und legitimen Mitteln zur Selbstoptimierung, Persönlichkeitsentwicklung und harmlosen Lifestyle-Angeboten fliessend sind –, bleibt die Zahl eine Schätzung. So auch die des Schweizer Journalisten und Sekten-Experten Hugo Stamm, der das Volumen des gesamten Esoterik-Marktes in der Schweiz auf rund 100 Millionen Franken jährlich taxiert.

Fakt ist: Esoterik, Aberglaube und Spiritualität sind salonfähig und in der Mitte der Gesellschaft angekommen. Das zeigt unter anderem die Erhebung von religiösen und spirituellen Praktiken und Glaubensformen in der Schweiz, durchgeführt vom Bundesamt für Statistik im Jahr 2019. So zeigt diese, dass mehr als jede zweite Person (56 %) Religion und Spiritualität in schwierigen Momenten in seinem Leben als eher oder sehr wichtig ansieht, im Fall einer Krankheit bei 44 Prozent.

Wie aber zeigt sich dies in der Praxis? Wie grenzt sich die Wichtigkeit der Spiritualität von der Religion ab? Das zeigt die Erhebung anhand des Anteils Personen, der in den letzten zwölf Monaten eine spirituelle Aktivität ausgeübt hat. So hat mehr als jede fünfte Person (21,5 %) Gegenstände verwendet, denen glück-, schutz- oder heilbringende Wirkung zugeschrieben wird, mehr als jede zehnte Person (12,2 %) hat regelmässig ein oder mehrere Bücher oder Zeitschriften über Esoterik oder Spiritualität gelesen und 6,7 Prozent haben gar eine Heilerin oder einen Heiler aufgesucht – 0,1 Prozent mehr als noch bei derselben Erhebung im Jahr 2014.

Esoterik-Bücher boomen

Durch die Corona-Pandemie und die dadurch für viele verbundene Häufung von schwierigen Momenten im Leben dürften diese Zahlen noch einmal gestiegen sein. Ein Indikator für das enorm gewachsene Interesse an Esoterik ist eine länderübergreifende, von GfK Entertainment zur Frankfurter Buchmesse durchgeführte Sonderauswertung, die Ende Oktober dieses Jahrs veröffentlicht wurde. Basis der Auswertung sind die physischen Buchmarkt-Zahlen für die ersten drei Quartale für die Länder Belgien (Flandern / Wallonien), Brasilien, Frankreich, Italien, Niederlande, Portugal, Spanien und Schweiz. Resultat: Der Esoterik-Markt gehört zu den bislang grössten Gewinnern des Jahres. Auf 73 Prozent (Wallonien) beziehungsweise 60 Prozent (Frankreich) belaufen sich die Zugewinne im französischsprachigen Raum, gefolgt von 40 Prozent in Brasilien, wie die Online-Plattform Presseportal berichtet. Auch die Einwohnerinnen und Einwohner von Flandern (plus 29 %), der Schweiz (plus 20 %) und den Niederlanden (plus 19 %) greifen bei Esoterik-Büchern derzeit gerne zu.

Doch auch fernab von schwierigen Momenten im Leben haben sich holistische, spirituelle und esoterische Glaubensansichten, Praktiken und Angebote in den letzten Jahren stark diversifiziert und ausgebreitet. Wie kommt das?

Zahlreiche Gründe für Wachstum

Einer der Gründe sehen Religionswissenschaftlerinnen und -wissenschaftler in der zunehmenden Säkularisierung und der damit einhergehenden, abnehmenden Verbundenheit zur Religiosität. Oder anders gesagt: Religion ist langweilig, institutioneller Glaube einschränkend, mit der Kirche kann man immer weniger anfangen.

So haben die Religionssoziologen Jörg Stolz und Mallory Schneuwly Purdie in der Schweizer Studie «Religion und Spiritualität in der Ich-Gesellschaft» 13,4 Prozent der Schweizer Bevölkerung als «alternative» Menschen definiert – Menschen, die holistische und esoterische Glaubensansichten und Praktiken aufweisen. 10,7 Prozent dieser Gruppe sind sogenannte «Sheilasten». Als Sheilasten werden in der Religionssoziologie Personen bezeichnet, die sich ihre ganz eigene Religion zusammenstellen, benannt nach einer Frau, Sheila, die dies von sich behauptete. Diese Beobachtung deckt sich mit dem gesellschaftlichen Trend der modernen Selbstfindung und -verwirklichung: Man bastelt sich seinen ganz eigenen Glauben – vom Gesetz des Karmas über heilende Steine und Kristalle bis hin zu geistlicher Heilung und Natur-Ritualen.

Diese vielgestaltige Spiritualität der Alternativen geht Hand in Hand mit dem immer breiter gefächerten Markt für solche Menschen. Stolz und Schneuwly Purdie sprechen hier von «alternativen Kundinnen und Kunden», die vielerlei Angebote aus der alternativen Spiritualität konsumieren und anwenden, hierbei aber keine besonderen spirituellen Absichten hegen. Also gestern energetische Heilung durch Handauflegen, heute Edelstein-Therapien, morgen Astrologie und Astralreisen. Oder: «Früher diktierte die Kirche, welche Überzeugungen richtig sind, heute reguliert sie der globale Markt», wie es der Schweizer Religionswissenschaftler Rafael Walthert 2018 in einem Interview mit dem «Tages-Anzeiger» gesagt hat.

Esoterischer Shooting-Star

Ein weiterer Treiber des blühenden Spiritualitätsmarkts ist die Digitalisierung. Ein hervorragendes Beispiel dafür liefert die Schweiz: Die 20-jährige Toggenburgerin Christina von Dreien gilt als Shooting-Star der deutschsprachigen Esoterikszene. Auf ihrer Webseite wird ihr eine «multidimensionale Wahrnehmung» attestiert, sowie, dass sie mit «anderen paranormalen Begabungen zur Welt kam» und «ihr Bewusstsein über ihr wahres Sein nie verloren hat». Damit lockt sie Massen an: Mit ihren Videos auf YouTube erreicht sie immer wieder über 100 000 Aufrufe.

Produziert werden einige dieser Videos in einem Lokal in der Arboner Altstadt. Wer live dabei sein will, zahlt 45 Franken Eintritt. Bei einem kostenlosen Event im Juli dieses Jahrs haben sich 3500 Personen angemeldet, wie das «St. Galler Tagblatt» berichtete.

Dass man durch die Digitalisierung jedoch nicht nur mehr Menschen erreichen, sich besser vernetzen und seine Angebote leichter verkaufen und präsentieren, sondern auch gleich neue Bedürfnisse schaffen kann, dafür liefert ebenfalls von Dreien den besten Beweis. In einem 2019 verfassten Newsletter schreibt sie, dass der neue Mobilfunkstandard 5G eine «sehr ernste Gefahr für uns alle» sei, da das schnellere Netz Krebs, Schlafstörungen und Schwindelanfälle verursache. Und siehe da: Sucht man auf Google nach «5G Schutz», findet man auf diversen Plattformen beispielsweise einen Körperschutz gegen Mobilfunkstrahlung und Elektroschutz – einen Sticker für rund 50 Euro, den man auf sein Handy kleben kann. Es gibt aber auch USB-Sticks für rund 300 Euro, die einen Energie-Schutzkegel um einen spannen und so vor Strahlung schützen. Eine Schweizer Firma hat gar einen «Wasservitalisierer» vertrieben, der das Trinkwasser energetisieren solle und zusätzlich vor Elektrosmog und Konsorten schütze. Das Gerät kostete laut deutschen Behörden 8000 Euro und wurde mittlerweile verboten.

Neuer Esoterik-Aufschwung durch Corona?

Und dann kam Corona. In einem Interview mit dem Mitteldeutschen Rundfunk sagt Harald Lamprecht, Beauftragter für Weltanschauungs- und Sektenfragen der Evangelisch-Luthe-rischen Landeskirche Sachsens, dass die Esoterik in den coronaskeptischen Bewegungen eine grosse Rolle spiele. Gar scheinen sie für ihn «doch eine der grössten und wichtigsten Gruppen zu sein, die das Ganze mitbewegen und befeuern». Und dadurch auch ihr eigenes Geschäft anheizen. Gründe dafür sieht Lamprecht darin, dass Esoteriker und «Querdenker» durch ihren Alternativzugang zur Realität verbunden werden: «Beide Milieus leben von Irrationalität und setzen auf einen intuitiven Zugang zur Welt. Vereint sind sie auch in ihrer Abneigung gegen Schulmedizin und evidenzbasierte Wissenschaft», sagt er. Zwar seien beide Gruppierungen, Esoterikerinnen und radikale «Querdenker», nur kleine Minderheiten. Allerdings könnten «ihre neuen Allianzen das gesellschaftliche Miteinander auch in Zukunft gefährden».

In der Schweiz zeichnet sich ein ähnliches Bild. Als im September dieses Jahres die Esoterikmesse «Lebenskraft» im Zürcher Kongresshaus endete, zogen die Veranstalterinnen und Veranstalter eine miserable Bilanz, wie TeleZüri berichtet: Wegen der Zertifikatspflicht mussten sie zahlreiche Absagen verkraften, da das Covid-Zertifikat in der spirituellen Szene umstritten sei und viele skeptisch seien, was das Impfen und Testen angehe.

Illegale Heilversprechen

Und: Bereits im Mai 2020 musste das Schweizerische Heilmittelinstitut swissmedic vor illegalen Arzneimitteln aus dem Internet und vor falschen Heilversprechen warnen. Sie sprechen dabei von selbsternannten Heilern und Betrügern, die Ängste und Unsicherheiten ausnutzen und versuchen, verschiedene Wundermittel und Heilanpreisungen zu verkaufen. «Solche Heilversprechen sind unseriös und illegal. Wer solche unlauteren Angebote nutzt, gefährdet nicht nur sich selbst, sondern auch andere», schreibt swissmedic in seiner Warnung.

Es deutet also vieles darauf hin, dass das Geschäft mit Aberglaube, Spiritualität und Esoterik durch die Corona-Pandemie noch weiter zunehmen wird. So haben die Sozialpsychologie-Doktorandin Pia Lamberty und die Politik- und Wirtschaftswissenschaftlerin Katharina Nocun 2020 ein Buch namens «Fake Facts» veröffentlicht, in welchem sie unter anderem empirisch untersucht haben, wie eng Verschwörungsglauben und esoterische Annahmen beieinander liegen: «Empirisch in Studien zeigt sich, dass ähnliche Faktoren den Glauben an esoterische Welterklärungsmodelle befeuern wie auch Verschwörungserzählungen», sagt Pia Lamberty in einem Interview mit Deutschlandfunk. «Das ist ganz oft so ein Kontrollverlust, also eine Situation, in der Menschen versuchen, Strukturen zu finden, beispielsweise nach Lebenskrisen, und da kann Esoterik scheinbar Halt bieten, genauso wie der Glaube an Verschwörungen.»

Grenzen verschwimmen

Pia Lamberty hält aber auch den Unterschied zwischen Esoterik und harmloser Spiritualität fest. «Nicht jeder, der ein Horoskop liest, wittert auch überall Verschwörungen, aber trotzdem ist diese Tendenz sehr stark. Problematisch wird es dann, wenn man sich oder auch vor allem andere gefährdet und wenn das Ganze zu einem Welterklärungsmodell wird.»

So verschwimmen auch hier die Grenzen zwischen ungefährlicher Selbstoptimierung und Hinabrutschen in alternative Realitäten. Auch auf der Seite der Anbieter von esoterischen und spirituellen Praktiken und Produkten: Ein Kenner der Reichsbürger-Szene und deren Verbindungen zur Esoterik sagt gegenüber dem «Tagesspiegel»: «Nicht jeder, der mit Engeln spricht, ist ein böser Mensch.»


Esoterik vs. Spiritualität

Für viele Menschen handelt es sich bei Spiritualität und Esoterik um ein- und dasselbe. Dabei macht es Esoterikern meist nichts aus, wenn man sie als spirituell bezeichnet. Für spirituelle Menschen kann der Vergleich oder die Verwechslung mit einem Esoteriker jedoch beleidigend wirken.

Einfach ausgedrückt bedeutet Spiritualität, dass ein Mensch Erfahrungen innerhalb seines Geistes macht – zum Beispiel beim Meditieren oder beim Nachdenken über das Wohin, Woher, Weshalb.

Bei der Esoterik hingegen wollen manche Menschen mit bestimmten Praktiken «übersinnliche Kräfte» entwickeln und so beispielsweise «die Aura» sehen oder Gedanken lesen und die Zukunft deuten.