Kommentar von Djemila Benhabib zum «World Hijab Day»
Studentinnen der Pariser Sciences-Po-Universität kamen 2016 auf die Idee, den «World Hijab Day» auszurufen. Sie riefen Frauen dazu auf, aus Solidarität einen Hijab zu tragen. Die aus Algerien stammende Publizistin und Frauenrechtlerin Djemila Benhabib reagierte mit einem offenen Brief. Heute findet die 2019er-Ausgabe des «World Hijab Day» statt. Wir drucken Djemila Benhabibs Brief mit freundlicher Genehmigung ab. Er hat nichts an Aktualität verloren.
Liebe Student/Innen der pol. Wissenschaften,
Ihr habt den 20.4.2016 zum Tag des Kopftuchs erkoren (aus purer Güte???) an dem die Verschleierung der Frau gefeiert werden soll. Das habt ihr mit einer befremdlichen Selbstverständlichkeit getan. Dabei handelt es sich hier um das Einsperren meiner Tochter, meiner Mutter und mir ebenso wie von Millionen von Frauen in der Welt.
Woher nehmt ihr das Recht, die Verfremdung anderer als exotisch anzusehen?
Sicher, dieses Kopftuchs das ihr befürwortet ist nicht allgemeingültig. EUCH und die Euren nehmt ihr davon aus. Im Grunde, für euch die Freiheit für mich das Gefängnis. Seltsame Vorstellung! Und genau hier ist der Rassismus. Habt ihr einen einzigen Augenblick daran gedacht die Rollen zu vertauschen? Wie schäbig. Wen wollt ihr glauben machen dass die Versklavung der natürliche Zustand der moslemischen Frau ist? Als eine von denen versichere ich euch, ich habe weder Ehrfurcht vor religiöser Bigotterie noch habe ich die Neigung zur Unterwerfung. Ich gehöre einer langen Tradition von Frauen an, die geprägt ist vom Kampf für die Freiheit sowohl des Geistes als auch des Körpers. Ich fordere die absolute Freiheit. Das ist nicht leicht.
Sich der “Herr”schaft zu verweigern ist eine Lebensaufgabe.
Mein Aufstand ist aus dem Leid geboren. Ich wiederhole mich: selbstverständlich akzeptiere ich nicht hier was ich dort verweigere. Dort das ist das Algerien meiner Kindheit, dort ist das vielköpfige Ungeheuer des Islamismus der 90er Jahre geprägt durch die Barbarei unter dem Deckmantel der Religion.
Schleier oder Kopftuch? Niemals, nicht hier und nicht dort und überhaupt nirgends.
Die Huren, das Kopftuch und die Demokratie
Liebe Student/Innen, ich habe euch zufällig in den Straßen von Paris getroffen, nicht weit entfernt von eurer Uni. Ihr seid ein Spiegelbild eurer Epoche, ihr lebt in dem übersteigerten Wunsch nach Selbstverwirklichung. Eure Haltung missfällt mir eigentlich nicht. Es ist besser eure Individualität auszuleben als darauf zu verzichten. Warum aber macht ihr aus meiner Sexualität eine öffentliche Angelegenheit? Schlimmer noch, ihr macht aus meinem “entrejambe” (Schritt) eine Sache als wäre es die eure. Indem ihr das Symbol des Kopftuchs so bewertet und die Frauen in “reine” und “unreine” einteilt werde ich auf das Terrain der Moral verschleppt.
Mit welchem Recht bevormundet ihr mich?
Ihr macht aus mir eine Hure. Ihr behandelt mich wie eine sexuelle Beute. Ihr appelliert an die Gefahr der Vergewaltigung. Falls ihr schon mal durch die Straßen von Kairo, Casablanca oder Alger gegangen seid habt ihr am Ende sicher bemerkt dass es für die Frauen ein Gefängnis unter freiem Himmel ist. Ihre Körper werden genau unter die Lupe genommen, es wird phantasiert, sie werden begrabscht ob mit oder ohne Kopftuch, von der Wiege bis zum Grab sind wir ein Haufen Trostlosigkeit. Wie kann es anders sein wenn die “Weibchen“ als Festung wahrgenommen werden die “mann” erstürmen muss, Fleischklumpen an denen man sich in der Metro oder Bus reibt, Schlachtfelder auf denen man sich nach einem Fußballspiel austobt, Fußabstreifer an denen man sich die Schuhe abwischt. Der Film “Die Frauen im Bus 768” von dem ägyptischen Regisseur Mohammed Diab handelt davon. Habt ihr ihn gesehen?
Es ist Allah’s Wille
Liebe Student/Innen der pol. Wissenschaften, wenn dieses Kopftuch ein beliebiges Kleidungsstück wäre würde es den Iranerinnen und SaudiAraberinnern nicht mit so einer Vehemenz aufgezwungen werden. Um nur 2 Beispiele zu nennen: der Körper der Frau ist Eigentum des Mannes, des Imam, des Tyrannen und Allah; sie alle teilen die gleiche Verachtung gegenüber Frauen. Unterwerft euch, gehorcht, akzeptiert eure Minderwertigkeit schreien sie wie aus einer Kehle. Diese Kontrolle über den Körper verlagert sich peu à peu vom privaten in den öffentlichen Raum. In großem Umfang wird die häusliche Gewalt immer mehr zu einer gesellschaftlichen systematischen Gewalt. Frauen, die als unmoralisch verurteilt werden sind in doppelter Hinsicht verdammt: durch die Sittenpolizei die sie nicht beschützen und durch die Gesellschaft die sie mit Hohngelächter aus ihrer Mitte vertreiben. Diese Inszenierung des Verfassungsbruchs durch die öffentliche Hand ist ein Freibrief für die öffentliche Anprangerung. Indem aus der Sexualität der Frau eine öffentliche Angelegenheit gemacht wird verschmilzt die Privatsphäre mit der öffentlichen.
Die Spaltung zwischen der Privatsphäre und der Öffentlichkeit ist das Fundament der Moderne und ermöglicht die Demokratie, garantiert die Achtung und die Freiheit für ALLE.
Wer profitiert von der Reglementierung wie lange der Rock einer Frau zu sein hat wenn nicht die Eiferer von Moral und Anstand? Islamische Regime bestimmen über die Sexualität der Hälfte der Bevölkerung. Das Diktat der moralischen Ordnung wird zum Fundament der politischen Autorität. Anders gesagt, wenn die Kopftücher verschwinden stürzt das Staatsgebiet ein. In diesem Sinne versteht sich das Negieren des sexuellen Wesens durch die öffentliche Ordnung. Eine Frau, deren Körper zur Geheimwaffe wird ist nicht lebendig. Kurzum, die Demokratie und das Kopftuch passen nicht zusammen. Die Freiheit des Geistes, des Körpers, einfach Freiheit, das gilt es zu verteidigen.
Es genügt, die Lebensbedingungen kleiner Mädchen im Islam zu hinterfragen. Im März 2002, während eines Brandes in einer Mädchenschule in Mekka mit 800 Schülerinnen, hat die Religionspolizei die Mädchen daran gehindert das brennende Gebäude zu verlassen mit dem Vorwand, sie seien ohne Kopftuch. Mehrere Augenzeugen, darunter Mannschaften der Sicherheitskräfte haben erklärt dass sie bei den Rettungsarbeiten durch die Religionspolizei behindert wurden. Diese befürchteten, dass die Mädchen die Schule ohne Kopfbedeckung verlassen könnten und keine männlichen Familienangehörigen die Mädchen in Empfang nehmen könnten. Schlussendlich, liebe Mädchen, verreckt lieber als dass man eine Strähne von eurem Haar sieht.
Keine Verpflichtung und kein Verbot des Kopftuchs, tatsächlich?
Liebe Student/Innen der pol. Wissenschaften, diese Initiative die ihr da ergriffen habt, den Tag des Kopftuchs zu feiern enthüllt in hohem Maße die Verworrenheit, die sich in eure Köpfe eingeschlichen hat. Ihr scheint nicht einmal mehr den Unterschied zwischen der Entfremdung einerseits und der freien Entscheidung andererseits wahrzunehmen. Berauscht von einer Überdosis Freiheit seid ihr dem Schicksal anderer gegenüber gleichgültig geworden. Ihr habt mit einem Teil der Menschheit gebrochen. Eure Gedanken sind aufgeweicht. Ihr habt die Verantwortung abgegeben. In euren Augen zählt die Emanzipation nicht, die Brüderlichkeit ist aus der Mode gekommen, Solidarität ist nostalgischer Kram. Ihr habt euch von einem Tariq Ramadan (schweiz. Islamwissenschaftler) anstecken, nein, in die Falle locken lassen. Er ist Weltmeister im Verfassen von Doppeldeutigkeiten, er versteckt sich hinter semantischen Wortklaubereien: keine Verpflichtung und kein Verbot des Kopftuches, um umso besser den Widerstand derjenigen ohne Kopftuch zu bombardieren.
Geht es um die Stellung der islamischen Frauen so gibt es viele Baustellen: das Erbrecht, das Zeugnisrecht vor einem Gericht, die Polygamie, die Verstoßung aus der Gemeinschaft, Gewalt in der Ehe, Ehrenmorde, das Sorgerecht für die Kinder, die Heirat einer Muslima mit einem “Ungläubigen”, die Möglichkeit Richterin oder Imamin zu werden, Erziehung, Verhütung, Homosexualität und Prügelstrafe. Zu all’ diesen Themen äußert sich Herr Ramadan nur sehr vage, aber über das Kopftuch macht er klare Aussagen. Und da er es auf maliziöse Art verteidigt zeigt sich ganz deutlich seine Machtstrategie. Was seine Formulierung “weder noch” anbelangt, damit streut er den falschen Humanisten, den Faulen, denen die es sich in der Unwahrheit bequem gemacht haben, Sand in die Augen. Diese tun so als würden sie die Wahrheit verteidigen. Die famose Oumma träumt davon, uns in der Gemeinschaft der Gläubigen zu ersticken. Sie setzen alles daran uns ins Unrecht zu setzen, unsere Bürgerrechte auszuhöhlen und die bestehende Demokratie zu untergraben.
Der politische Islam impliziert einen historischen Bruch mit der Republik
Im Westen ist dieses Kopftuch zur Fahne all’ derer geworden die die Verschmelzung des Islam und des Staates preisen. Der politische Islam bedeutet einen historischen Bruch mit der demokratischen Republik und eine bedeutende gesellschaftliche Umorientierung. Die Besetzung des öffentlichen Raumes durch das Kopftuch wird zum “Muss”. Aus dieser Perspektive heraus bekommt das Kopftuch in der Öffentlichkeit eine bedeutende Rolle. Die zunehmende Macht der Islamisten erkennt man an der steigenden Zahl der Kopftuchträgerinnen (oder Burkini in öffentl. Schwimmbädern; Anmerkung der Übersetzerin). Das weiß Tariq Ramadan sehr gut. Deshalb ist für ihn das Kopftuch oberste Priorität. Er, seine militanten Mitstreiter und seine Satellitenorganisationen wie die Salafisten und Moslembrüder arbeiten unermüdlich daran, dass sich der Islam schnell verbreitet.
Es ist augenfällig, liebe Studenten/Innen der pol. Wissenschaften, ihr leidet unter dem Syndrom des blasierten Individuums das zu viele Privilegien und Freiheiten genießt. Tatsächlich habt ihr nichts dafür tun müssen, es ist euch auf dem Silbertablett serviert worden. Kein Haar ist euch jemals gekrümmt worden, für nichts habt ihr kämpfen müssen, ihr seid ja auch kein kleines Mädchen aus Nigeria. Ihr bekundet eine Gleichgültigkeit gegenüber dem Leid einer “Assiatou, entführt durch Boko Haram” (Michel Lafon, 2016). Ihr seid nicht Katia Bengana oder Amel Zenoune, zwei junge Frauen die in der Blüte ihres Lebens im Algerien der 90er Jahre ermordet wurden weil sie das Tragen des Kopftuchs verweigert haben. Ihr zieht gelangweilt die Schultern hoch wenn ihr von den heroischen iranischen und afghanischen Frauen hörst die sich dem Tragen des Kopftuchs widersetzen. Ihr müsst nicht ins Exil, ihr habt noch nie Terrornächte erlebt und ihr kennt nicht das Schicksal der jesidischen Frauen und Kindern. Ihr musstet euch noch nie verstecken um zu beten wie die Christen im Orient. Ihr habt noch nie in einem Bus vor Angst, entdeckt zu werden, gezittert. Ihr wisst nicht was der Aufstand eines Garcia Lorca bedeutet (span. Schriftsteller), ihr fühlt euch nicht solidarisch mit dem Schicksal von Asia Bibi (christl. Pakistanerin die zum Tod verurteilt wurde) oder Raif Badawi (zu 1000 Stockschlägen verurteilt wegen Kritik an der saudiarabischen Staatsführung). Ihr habt das Warschauer Ghetto besucht als ob ihr zu einem Rockkonzert gehen würdet. Von der Affäre Dreyfus habt ihr nichts begriffen.
Nein, die Wahrheit kennt keinen Mittelwert. Zwischen der Demokratie und dem Faschismus gibt es keine halben Sachen. Man kann nicht gleichzeitig die Freiheit und Entfremdung preisen. Entweder das eine oder das andere, ihr könnt wählen.
Habt den Mut ein freier Mensch zu sein!
Indem ihr euch in dem anderen wiedererkennst, so wie es Kant in seinem berühmten kategorischen Imperativ sagt:” Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde”.
Euer Land hat sich euch gegenüber immer großzügig verhalten. Aber was macht ihr um diese Ideale zu verteidigen? Ihr flirtet mit der Theokratie. Ihr bandelt mit dem IS an.Ja, ich wage es zu sagen und bleibe bis zum Schluss bei meiner Argumentation. Zwischen denen die sich mit den Milizen des IS solidarisieren und euch, die dazu beitragt die Symbole des Islam zu verharmlosen ist kein großer Unterschied.
Mit diesem Tag des Kopftuchs oder Hijab tragt ihr zur Banalisierung des Bösen bei, wie es Hannah Ahrendt formuliert hat. Und schlimmer noch, ihr verzichtet darauf Verantwortung zu übernehmen und die Demokratie zu verteidigen. Ihr verirrt euch. Ihr entehrt euch und eure Gedanken. Ihr verachtet die Erkenntnisse. Ihr entfernt euch vom Menschsein. Ihr verratet die Philosophie der Aufklärung. Ihr versinkt in sklavischer Exotik. Dennoch, eure Privilegien machen aus euch keine Wesen die unfähig sind die Komplexität der Welt in der wir leben zu begreifen.
Reißt euch zusammen, ihr Student/Innen der pol. Wissenschaften. Macht die Augen auf, bildet euch, lest, hört zu wenn euch Menschen von ihren Erfahrungen im politischen Widerstand erzählen. Ihr werdet in ihren Worten den Mut entdecken der euch fehlt um freie und aufrichtige Menschen zu sein.
Ubersetzung: Marina Endres