Religiöse Traditionen können und müssen sich ändern

In New York kritisiert die Gesundheitsbehörde die Praxis von ultraorthodoxen Juden, welche bei der Beschneidung von Knaben nach alter Tradition das austretende Blut mit dem Mund absaugen (Metzitzah B’peh, wörtlich übersetzt: oral-genitale Beschneidung). Diese Praxis  birgt medizinische Risiken für das Kind durch potenzielle Infektion z.B. mit dem Herpesvirus. Eine Minderheit der Behörde ist der Meinung, dass die Praxis sogar ganz verboten werden müsse. Neu sollen in New York beide Eltern über diese Praxis schriftlich informiert werden und beide schriftlich zustimmen müssen. Die Ultraorthodoxen wollen nun Beschwerde einreichen, bevor die Regelung – 30 Tage nach Publikation – in Kraft tritt, weil nach ihrer Auffassung ein Knabe ohne diese nach über 3000 Jahre alter Tradition ausgeführten Teil der Beschneidung der Knabe nicht jüdisch sei und es ihnen damit verunmöglicht werde, den eigenen Kindern das Wichtigste im Leben weiterzugeben. http://www.nytimes.com/2012/09/14/nyregion/health-board-votes-to-regulate-jewish-circumcision-ritual.html?_r=1

Aufgrund der Intervention in New York lehnt sich nun auch die Vereinigung der Kinderärzte (IAPA) in Israel gegen ein uraltes Ritual auf. Die Ärzte forderten das israelische Gesundheitsministerium auf, in Krankenhäusern und Babykliniken darüber zu informieren, dass Metzitzah B’peh nicht nötig sei. Das Oberrabbinat reagierte mit einer Erklärung, dass Mohalim die Eltern ohnehin über Risiken aufklären und ihnen die Wahl lassen würden. »Und die meisten wählen die Pipette«, betonte der Leiter der Beschneidungsabteilung des Rabbinats, Mosche Marciano. Tatsächlich wird heutzutage bei den wenigsten Beschneidungen Metzitzah B’peh angewandt, sondern eine sterile Pipette benutzt. http://www.juedische-allgemeine.de/article/view/id/13733

Angst vor den Müttern?

Interessant an diesem Fall ist, dass die Ultraorthodoxen sich gegen die Vorschrift wehren, dass beide Eltern unterschreiben müssen. Das kann wohl nur bedeuten, dass sie nicht möchten, dass die Frauen hier was zu sagen haben, weil sie fürchten, dass die Frauen – selber nicht physisch durch die Tradition an das Ritual gebundenen – als Mütter der Neugeborenen da möglicherweise nicht diskussionslos zustimmen würden.

Transformation

Das Beispiel zeigt zudem, dass die Tradition der Beschneidung selber Transformationen erfahren haben, dass neue Erkenntnisse der Medizin die Praxis bereits verändern konnten. Interessant ist auch, dass offenbar unter Juden diese verschiedenen Praktiken der religiösen Beschneidung nicht durchwegs bekannt sind. Innerhalb der Religionsgemeinschaft wird also darüber kaum gesprochen. Es ist dieses nicht Diskutierte, nicht Diskutierbare, das die Tradition so mächtig macht. Dadurch, dass die Traditionen von aussen angegriffen werden, wird nun aber auch die internen Debatte angeregt. Deshalb ist das Urteil von Köln auch so wichtig. Nur Richter können solche Bewertungen äussern, ohne gerade direkt dem Antisemitismusvorwurf ausgesetzt zu werden. Die nun angestossene Debatte sollte deshalb auch nicht von der Politik durch den Erlass eine voreilige politische Sonderregelung abgewürgt werden. Die Politik muss solche Spannungen aushalten und Zeit zur Lösungsfindung geben.

Petition für ein Moratorium

Deutsche Kinderschützer haben eine Petition an das deutsche Parlament lanciert, die für die nächsten zwei Jahre keine gesetzlichen Schritte zur Legitimation der Beschneidung fordert.

Text der Petition

Der Deutsche Bundestag möge beschließen, zunächst für zwei Jahre keine gesetzlichen Schritte zur Legitimation der Beschneidung von Jungen in Deutschland zu ergreifen. Weiterhin möge der Deutsche Bundestag die Einsetzung eines Runden Tisches mit Experten aus allen Gebieten beschließen, um das Thema Beschneidung in Deutschland wissenschaftlich fundiert zu diskutieren und eine Strategie zu erarbeiten, welche alle Interessen, vor allem aber die Belange des Kindeswohls, berücksichtigt.

Begründung

Die Petenten erkennen, dass in der durch das Urteil des LG Köln ausgelösten notwendigen Debatte über die medizinisch nicht indizierte Beschneidung von Jungen einseitig das Thema Religionsfreiheit dominiert. Sie verstehen die Reaktionen von muslimischen und jüdischen Verbandsvertretern, die eine lange Tradition in Frage gestellt sehen, und sie haben Verständnis dafür, dass diese sich für ein Festhalten an ihren Bräuchen und Traditionen einsetzen. Der Dialog und das Miteinander des Staates und der unterschiedlichen Religionsgemeinschaften ist ein hohes und wichtiges Gut, das sich in Art. 4 GG wiederfindet. Gleiches gilt für das Erziehungsrecht der Eltern aus Art. 6 II 1 GG.

Doch gelten beide Rechte trotz ihres Verfassungsranges nicht vorbehaltlos und müssen sich der Abwägung mit anderen Grundrechten stellen. Hier gilt es die bisher im Diskurs vollständig vernachlässigten Belange der Kinder, rechtlich normiert in Art. 2 GG, Art. 6 II 2 GG und Art. 19 I und Art. 24 III der UN-Kinderrechtskonvention, zu berücksichtigen.

Mediziner haben klar und sachlich deutlich gemacht, dass eine Beschneidung ein gravierender und irreparabler Eingriff in die körperliche Unversehrtheit eines Kindes ist. Psychologen befürchten Traumata. Bei ca. 10% der sachgerecht durchgeführten Beschneidungen treten Komplikationen auf. Zudem existieren zahlreiche Studien, die keine Evidenz für eine Gesundheitsdienlichkeit als mögliche Rechtfertigung dieses Eingriffes im Sinne des Kindeswohls zeigen konnten.

Die Petenten sehen die Gefahr, dass sachfremde Erwägungen immer stärker in die Argumentation einfließen und es der Politik unmöglich machen, eine Güterabwägung im Interesse des Kindeswohls auch nur ansatzweise zuzulassen. Vorsicht geboten ist ebenso bei der Vereinheitlichung des muslimischen und jüdischen Glaubens, gibt es doch auch hier ein breitgefächertes Meinungsbild zum Thema kindliche Beschneidung.

Als notwendig und lohnenswert für alle Interessengruppen empfinden die Petenten daher einen sachlichen, verantwortungsvollen und umfassenden Dialog aller Akteure als Alternative zu einem übereilten politischen Aktionismus. Eine breite Debatte ist in Anbetracht der Bedeutung der betroffenen fundamentalen Rechte und Güter unabdingbar und muss von der Politik zugelassen werden. Ein Runder Tisch bestehend aus Religionsvertretern, muslimischen und jüdischen Befürwortern und Gegnern der Beschneidung, Psychologen, Psychoanalytikern, Kinderärzten, Kinderchirurgen, Kinderschützern und Vertretern der Jugendhilfe sowie weiteren Experten kann das Thema Beschneidung in Deutschland wissenschaftlich fundiert diskutieren und eine Strategie erarbeiten, welche alle Interessen, vor allem aber die Belange des Kindeswohls, berücksichtigt. Ein Moratorium von zwei Jahren für eine ausgewogene und wissenschaftlich fundierte Diskussion erscheint den Petenten dafür angemessen.

http://die-petition.de/

 

Schlagworte