Ethik ohne Gott

von Philip Kitcher

Viele Menschen sind derselben Ansicht wie Dostojewskijs Iwan Karamasow: Würden ethische Prinzipien nicht auf göttlichen Geboten gründen, wäre alles erlaubt. Doch seit Platon haben Philosophen religiös begründete Ethiken immer wieder infrage gestellt. Sie haben nach anderen Quellen absoluter ethischer Autorität getrachtet, an die Stelle göttlicher Gebote das Diktat der Vernunft gesetzt, das Sittengesetz an sich (Kant) gesucht.

Vor mehr als hundert Jahren skizzierte Darwin eine abweichende Auffassung von Ethik, die wir heute sehr viel besser und umfassender formulieren können. Ihr zufolge erweist sich Ethik als ein menschliches Phänomen, das stets im Fluss bleibt. Diese Perspektive ermöglicht einen neuen Blick auf viele Fragen, mit denen wir heutzutage konfrontiert sind.

Vor fünfzigtausend Jahren lebten unsere Vorfahren, wie es Schimpansen bis heute tun, in gemischten Gruppen von etwa dreissig Mitgliedern aller Altersstufen. Diese Art der Gemeinschaft ist an sich bereits eine soziale Leistung. Sie setzt psychologische Fähigkeiten voraus, die in der Natur selten sind. Wie Primatenforscher herausgefunden haben, können Schimpansen die Wünsche und Bedürfnisse ihrer Artgenossen erkennen und solidarisch reagieren. Manchmal helfen sie benachteiligten Verwandten, ohne selbst etwas davon zu haben, oder tun für andere Dinge, an denen diese sich erfolglos versucht haben. Solche altruistischen Impulse ermöglichen ein soziales Miteinander. Doch diese Fähigkeit zur Einfühlung stösst leicht an ihre Grenzen. Im Leben der Schimpansen gibt es häufig Konflikte, weil egoistische Neigungen stärker sind als der begrenzte Altruismus und Loyalitäten leicht aufgekündigt werden. Immer wieder kommt es zu Streit oder gar gewalttätigen Konflikten auf die anschliessend eine lange Phase der Versöhnung folgt, in denen sich die Tiere zusammenscharen, Beistand und Sicherheit suchen. Auch dies dürfte für unsere Vorfahren charakteristisch gewesen sein ihre Möglichkeiten zur Kooperation waren ebenso begrenzt wie die Grösse der Gesellschaften, in denen sie leben konnten.

Primitive Ethik

Menschlich im eigentlichen Sinne wurden wir erst, als wir Wege fanden, sozial unverträgliches Verhalten zu verhindern und altruistische Fähigkeiten zu verstärken. In einer frühen Phase dieses Prozesses mögen Sanktionen eine Rolle gespielt haben, doch der entscheidende Schritt war die Verinnerlichung von Verhaltensvorschriften. Der Mensch stellte für sich selbst Regeln auf oder erinnerte sich an beispielhaftes Handeln. Wir erfanden eine primitive Ethik. Diese psychologische und soziale Errungenschaft war an die Verwendung von Sprache und an die Fähigkeit geknüpft, potenzielle Verhaltensregeln untereinander zu diskutieren. So bildeten sich Ge- und Verbote heraus, die noch heute in zeitgenössischen Gesellschaften von Jägern und Sammlern zu beobachten sind, Regeln, die sich auf Fragen von Loyalität in Konfliktfällen und auf die Partnerwahl beziehen ebenjene Fragen, die in Schimpansengesellschaften für Spannungen sorgen. Doch das war erst der Anfang.

Verschiedene Gruppen experimentierten mit verschiedenen Regeln, erfolgreiche Experimente wurden weitergegeben. Daraus entwickelte sich vor etwa zehntausend Jahren die Fähigkeit des Menschen, mit sehr viel mehr Personen permanent zusammenzuleben, sodass Siedlungen mit Hunderten von Einwohnern entstanden. In den fragmentarischen Gesetzestexten der Frühzeit, also nach der Entwicklung der Schrift, können wir die sittlichen Begriffe unserer Ahnen erkennen. Man sieht eine unsystematische Übernahme von Regeln, die aufgestellt wurden für noch nicht dagewesene Situationen und die an Gesellschaften mit völlig anderen religiösen Orientierungen weitergegeben wurden. Es ist also nicht so, dass die gleichen Vorschriften von unterschiedlichen Gottheiten verkündet wurden, sondern eher so, dass diese Regeln zunächst als praktische Lösungen für soziale Probleme entwickelt und erst dann in einen religiösen Zusammenhang gestellt wurden, der ihnen zusätzliches Gewicht verlieh. Schliesslich haben schon frühzeitliche Gesellschaften festgestellt, dass sich durch Verweis auf ein allwissendes Wesen, das über unsere Handlungen richtet, Gesetzestreue hervorragend durchsetzen lässt.

In der fünftausendjährigen Geschichte schriftlich fixierter Gebote hat es grosse Umbrüche gegeben. Das Recht auch fremdartig aussehender Menschen wurde anerkannt, die Sklaverei abgelehnt und die Gleichberechtigung der Frauen (zumindest in einigen Gesellschaften) akzeptiert. Doch der Motor dieser Entwicklung war gewiss nicht das Verständnis der Menschen für das ethische Projekt. Ausschlaggebend war eher der Widerstand der Leidenden. Der Fortschritt hat sich als blind erwiesen, als Ergebnis von Zwängen, nicht von Erkenntnis.

Projekt Ethik fortsetzen

Dieser Blick auf die historischen Wurzeln unserer ethischen Begriffe mag für die Zukunft hilfreich sein. In Debatten über ethische Fragen kann man sich nicht darauf beschränken, Dogmen konkurrierender Traditionen auszutauschen oder unauflösliche Meinungsverschiedenheiten einfach hinzunehmen. Wir müssen das vor Jahrtausenden begonnene Projekt fortsetzen, indem wir all jene Punkte untersuchen, an denen unsere übernommenen ethischen Maximen in Widerspruch geraten. Das einzige Werkzeug, das uns dabei zur Verfügung steht, ist unsere Fähigkeit, die Folgen unseres Handelns für andere Menschen möglichst genau und umfassend abzuschätzen, ihnen mit Einfühlung zu begegnen und die Situation von unterschiedlichen Standpunkten aus zu betrachten.

Wenn zum Beispiel darüber diskutiert wird, ob Embryonen zur Entwicklung von Therapien schwerster Krankheiten herangezogen werden dürfen, können wir apodiktische Hinweise auf unwiderlegbare fundamentale Gebote ausser Acht lassen. In den heiligen Schriften wird nichts über den Status von Embryonen gesagt, aber selbst wenn dem so wäre, können und sollten wir solche Kommentare als Reste früher Reaktionen auf ethische Probleme betrachten, die im Licht unseres Wissens und unserer Möglichkeiten neu bewertet werden müssen. Dabei können wir uns zwar in die Lage von Schwerkranken einfühlen, aber wir wissen nicht, welche Perspektive sich für einen embryonalen Zellhaufen weit vor jenem Stadium eignet, in dem sich ein zentrales Nervensystem herausbildet.

Ethik als Prozess

Und wenn islamische Extremisten zur Rechtfertigung von Terrorakten einen Koranvers zitieren oder amerikanische Fundamentalisten unter Berufung auf die Offenbarung eine Destabilisierung des Nahen Ostens fordern, weil dies der Weg zum Ende aller Tage und zur Wiederkehr des Messias sei, sollten wir nicht nur gegen die tendenziöse Interpretation der Texte protestieren, sondern auch deutlich sagen, dass diese Texte Antworten auf ethische Situationen einer fernen Vergangenheit sind, die heute neu bedacht werden müssen.

Entsprechende Einfühlung mag uns mit den Bedürfnissen derjenigen vertraut machen, die Gewalt predigen − aber die Einsicht in die furchtbaren Auswirkungen der von ihnen geforderten Aktionen wird uns dazu bringen, nach friedlichen Lösungen für die Sorgen dieser Leute zu suchen. Es könnte so aussehen, als würde jedwede Art von Autorität untergraben, wenn man Ethik auf diese Weise als menschliches Phänomen, als Prozess versteht.

Ist ohne absolute Gebote nicht alles erlaubt? Warum sollten wir die heutzutage gültigen ethischen Maximen wenn sie sich dergestalt entwickelt haben überhaupt befolgen? Ein Teil der Antwort findet sich bei Platon: Es reicht nicht, eine Ethik auf göttliche Gebote oder das Diktat der Vernunft zurückzuführen. Entscheidend ist, dass der Ursprung eines Gebots in gewissem Sinne gut ist. Es muss schon vorher etwas Gutes existieren, ein Fundament, an dem sich das Gebot orientiert.

Tatsächlich erschliesst sich das Gewicht der Ethik sehr viel besser, wenn man sie als Ergebnis eines historischen Prozesses betrachtet. Demnach wären wir in eine bestimmte ethische Praxis sozialisiert − und das eröffnet sowohl die Chance, das ethische Projekt weiterzuentwickeln, als auch, dessen Beschränkungen zu erkennen. Stellt jemand die Gültigkeit einer ethischen Maxime infrage, kann man diesen Einwand ernst nehmen als einen Aufruf zum Dialog, der im Hinblick auf seine Konsequenzen kritisch zu prüfen wäre.

Solche Zweifel gehören zum fortgesetzten ethischen Projekt. Verwirft ein Skeptiker dieses Projekt jedoch insgesamt, bleibt uns als konkrete Alternative nur die beschränkte und konfliktreiche Welt der Schimpansen. Diese Art von Skeptizismus können wir nur als Ablehnung eines erkennbar menschlichen Lebens betrachten.

Wir haben von unseren Ahnen eine komplexe ethische Praxis geerbt, die wir für bindend erachten, solange wir sie nicht verbessern können. Zu verstehen, woher wir kommen, kann uns helfen, voranzuschreiten, Erkenntnisse zu gewinnen, die sich auf alle uns beschäftigenden Fragen auswirken, und vor allem können wir unsere Fähigkeit zur Einfühlung erweitern. Denn mit diesem Vermögen zur Einfühlung begann das ethische Projekt, das unsere Ahnen erst zu Menschen machte.

Aus dem Englischen von Matthias Fienbork Quelle: DIE ZEIT, 38/2006

Schlagworte